Von der Schulbank ins Gefängnis

Erdogan-Kritiker leben in der Türkei gefährlich. Doch auch die Opposition ist keineswegs tot, wie sich dieser Tage zeigt

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Über Nacht ist der türkische Schüler Mehmet EminAltunses wider Willen in der Türkei zu einer Berühmtheit geworden. Der 16-Jährige war von der Polizei von der Schulbank weg verhaftet worden. Er hatte zwei Tage zuvor in einer Rede daran erinnert, dass die Korruptionsvorwürfe gegen den türkischen Staatspräsidenten Erdogan weiterhin nicht ausgeräumt seien. Erdogan und seine islamistische AKP seien die "diebischen Besitzer des illegalen Palastes", erklärte Altunes über Megafon. Daraufhin begann die Staatsanwaltschaft wegen Präsidentenbeleidigung zu ermitteln.

Es ist nun wahrlich nicht das erst Mal, dass die türkische Justiz gegen Erdogan-Kritiker vorgeht. Bereits während seiner Zeit als Premierminister war er sehr klagefreudig. Doch die Verhaftung eines 16-Jährigen in der Schule führte zu einer großen Solidaritätskampagne der türkischen Opposition. Auch über die sozialen Netzwerke wurde Mehmet Emin Altunses zu einem Symbol für das autoritäre Erdogan-Regime.

Doch sein Fall wurde auch zum Beispiel dafür, dass selbst das Erdogan-Regime und seine ihm ergebene Justiz trotz großer Zustimmung zum neoosmanischen Kurs des Regimes lavieren muss. Bei der Einreichung der Haftbeschwerde wurde Altunses Anwalt von über 200 Juristen begleitet. Auch einige türkische Medien, die bisher keineswegs oppositionell waren, verurteilten die Inhaftierung eines 16jährigen. Nach zwei Tage wurde Altunes freigelassen. Doch das Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung läuft weiter, so dass dem Schüler noch immer eine längere Haftstraße droht.

Rache an den Aktivisten der Gazi-Proteste

Altunses ist dieser Tage keineswegs der einzige Erdogan-Gegner, der mit Repression konfrontiert ist. Mittlerweile hat die gerichtliche Aburteilung führender Aktivisten der Gazi-Proteste des letzten Jahres begonnen. So wurde der 17jährige Mustafa Ali Tonbul zu einer drei monatigen Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Geziprotesten im letzten Jahr verurteilt. Der Jugendliche war im letzten Jahr durch einen Tränengaskanister am Kopf verletzt worden. Im Krankenhaus erlitt er mehrmals einen Herzstillstand. Bis heute leidet er deshalb an Sprach- und Konzentrationsstörungen. Auch vier seiner Freunde wurden zu der dreimonatigen Haftstrafe verurteilt.

Doch die juristische Aburteilung der Gezi-Aktivisten befindet sich noch am Anfang. Mittlerweile hat das Verfahren gegen 35 Istanbuler Fußballfans begonnen, die sich aktiv an den Protesten gegen Erdogan beteiligt hatten. Ihnen drohen bei einer Verurteilung lebenslängliche Haftstrafen.

Solche Strafandrohungen sollen abschrecken und haben ihre Wirkung nicht verfehlt. In den letzten Monaten war von den großen Protesten kaum noch etwas zu hören und zu sehen. Da hat man sich schon gefragt, ob die Aktivisten sich überschätzt haben, als sie im letzten Jahr erklärten, dass die Geziproteste für die Beteiligten eine wichtige Erfahrung der Selbstermächtigung bedeutet haben, die ihnen auch dann nicht mehr zu nehmen ist, wenn die ursprünglichen Ziele nicht erreicht worden sind. Die schnellen Reaktionen auf die Verhaftung von Mehmet Emin Altunses zeigen, dass die Wut noch vorhanden ist und die scheinbare Ruhe schnell vorbei sein kann, wenn Erdogan und sein Regime den Bogen überspannen.