Vorwärts immer, rückwärts nimmer

Vor dem Vorrundenfinale gegen Ghana: Die neue deutsche Spiel-Multikultur

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"Vom bloßen Wünschen ist noch keiner satt geworden. Es hilft nichts, ja schwächt, wenn kein scharfes Wollen hinzukommt." Ernst Bloch

Fußballspiele sind wie Bundespräsidentenwahlen Experimentierfelder für Realitätsverschiebungen. Das lässt sich gerade hervorragend am Beispiel der deutschen Fußballnationalmannschaft beobachten. Fußball verkörpert die Gesellschaft, in der er spielt. Darum enthüllt das ästhetische Phänomen auch zugleich die Regeln dieser Gesellschaft.

Ohne Phantasie keine Nation. Denn Nationen, so Benedict Anderson in "Imagined Communities", sind nichts Natürliches, sie müssen vorgestellt und in der Phantasie konstruiert werden. Was für Einwanderungsländer wie die USA oder Argentinien gilt, gilt nicht weniger für Spanien oder die Deutschen. Der Multikulturalismus sei gescheitert, verkündet nun, von CSU-Landtagsabgeordneten bis zu geläuterten GRÜNEN das Merkel-haft gewendete Bürgertum allzugern.

Dass der Multikulturalismus in Wahrheit gesiegt hat, beweist derzeit die deutsche Nationalmannschaft. Kein zweites Team hat seinen Stil derart verändert wie das deutsche, hat den Neustart einer über Jahrzehnte gepflegten Spielkultur eingeleitet wie die Deutschen über Jogi Löw. Es geht um Jugend und um Multikultur, um Kurzpassspiel und um Offensive, um den Abschied vom langweiligen Ballgeschiebe, dass die deutsche Nationalmannschaft im Jahrzehnt vor dem WM-Titel von 1990 und dann wieder in den Jahren 1998-2006 kennzeichnete.

Auf dem grünen Rasen sorgte die Verletzung von Michael Ballack für ein beschleunigtes Ende des alten Stils. Gut, das Ballack, dieses fußballerischen Symbol der Ära-Merkel ausfiel, um die Hierarchien im deutschen Team zu glätten, um Raum zu lassen für Özil und Khedira. Vor allem bei Khedira, der vor der WM nur einen Einsatz im Nationalteam aufweisen konnte, muss man in dieser Hinsicht Abbitte leisten.

Heute abend muss sich vieles beweisen. Aber nicht die Grundidee jener jungen Multikultitruppe, mit der Deutschland jetzt nur endlich aufholt, was in Holland seit 20 Jahren und in Frankreich seit 15 Jahren erreicht ist. Wir sind sehr spät dran, das hätte alles schon vor 20 Jahren passieren sollen, aber besser spät als nie.

Wenn wir auf die Gesellschaft blicken, passiert dort einstweilen noch das Gegenteil: Da wird der Jugend keine Chance gegeben, der Zukunft alles Geld entzogen für die Riesenprivilegien der alten Generation. Insofern ist die Rede vom Jugendwahn fast heuchlerisch.

Auch das Spiel gegen Serbien oder das moralische Desaster der Franzosen sind kein Argument gegen den Siegeszug des Multikulturalismus. "Zeigt dem Balkan, was der Ball kann", hatte der Boulevard sich ein wenig zu früh gefreut. Hochmut war schon immer, ohne das man jetzt gleich an schlimme Vergangenheiten denken muss, eine deutsche Untugend. Stattdessen rieb sich die deutsche Fußballnationalmannschaft im Spiel gegen Serbien, am Pech, eigenen Unvermögen, aber nicht zuletzt auch am Balkan-Bollwerk auf. "Im Leeeben im Leeeben geht mancheer Schuß daneeeben" - sang vor Jahren schon Katja Epstein. Aber jede Mannschaft, die Weltmeister werden will, muss durch eine solche Prüfung gehen, die Weltmeister der Vorrunde, waren am Ende noch nie erfolgreich.

Zur Not bleibt heute Abend am Ende die "konkrete Utopie" Ernst Blochs und die von ihm gern zitierte Parole aus den Bauernkriegen: "Geschlagen ziehen wir nach Haus - unsere Enkel fechtens besser aus!"