Was sehen wir, wenn wir Fußball sehen?

Der "Visual Turn" am Beispiel des Fernsehfußballs und die Systematisierung der Langeweile im Hybrid-Bild

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Es ist Zeit, hier an den Renner der letzten Documenta zu erinnern: Der Berliner Filmemacher Harun Farocki legte dort eine Analyse des letzten WM-Endspiels zwischen Italien und Frankreich vor. Sie und ihre Konsequenzen sollte man sich in diesen Tagen der Rundumversorgung mit Fernsehfußball nochmals in Erinnerung rufen.

"Im Finale 2006 haben die Italiener manchmal ganz schnell weiter gespielt. Aber mit welchem Erfolg? Null. Diese reine Zahlenlogik ist absurd. Das ist die Systematisierung der Langeweile. Wie viele Duelle verliert Zidane in so einem Spiel, aber wenn er im entscheidenden Moment Erfolg hat, wie bei der WM im Viertelfinale gegen Brasilien, reicht das aus." Harun Farocki über "Deep Play"

"Deep Play"

In seiner Installation "Deep Play" zeigte Farocki das Endspiel synchron und parallel auf zwölf Monitoren. Bildgestaltung und Perspektiven waren allerdings völlig unterschiedlich. Neben dem "Clean Feed" genannten, kommentarlosen, unbearbeiteten Bildmaterial, das an die weltweit etwa 250 angeschlossenen Fernsehsender geliefert wurde, gab es parallele Vollzeit-Beobachtungen zweier einzelner Spieler, des französischen Mittelfeldspieler Patrick Vieira und des italienischen Innenverteidigers Fabio Cannavaro, sowie auf einem dritten Bildschirm ausschließlich Mimik und Gesten des italienischen Trainers. Daneben Bilder der über 50 Überwachungskameras am Berliner Olympiastadion, 3-D- und 2-D-Animationen, die Passfolgen in Grafiken übersetzten oder die Spielzüge übereinanderlegten, um Symmetrien und Abweichungen deutlich zu machen, oder Bewegungsparameter, die die Geschwindigkeit der einzelnen Spieler auf dem grünen Rasen in abstrakte Zeichen übersetzten, oder eine künstliche Computerstimme, mit der das Spielgeschehen digital in objektive Handlungen und Gesten aufgelöst und sprachlich wiedergegeben wird. So wird der Gesamtkörper "Endspiel" seziert und in seine Einzelaspekte zerlegt.

"Deep Play" ist damit nicht allein eine Bildbetrachtung des Fußballs. Fußball dient hier vielmehr als Spiegel und vergleichsweise neutraler Vektor der übrigen Welt, als passendes Objekt, um verschiedene Weisen der Wahrnehmung, der Bemächtigung, der Ästhetisierung, Politisierung und Ökonomisierung darzustellen. Man erfährt also etwas über diese verschiedenen Formen der Weltwahrnehmung.

"Taylorisierung" und die Tendenz zu "hybriden Bildern

Man erfährt aber auch einiges über Fußball und dessen Darstellung: Zwei Tendenzen lassen sich feststellen: Farocki selbst spricht von "Taylorisierung", also der - vermeintlich wissenschaftlichen - Zergliederung des Spiels durch die Darstellung in seine Einzelaspekte sowie die Tendenz zu "hybriden Bildern, zu einer Mischung von analogem Realbild und digitalem Schema".

Dort bemängelt Farocki auch die "biedere" Darstellung des Spiels in Kameraführung und Schnitt, die zu einer "Erstarrung" führe. Worum es geht, scheint klar: Man will Sicherheit, man will das Gefühl von Kontrolle. Grafiken, Zahlen und fachmännische Kommentare erzeugen die Illusion von Rationalität im irrationalen Spiel. "Dass Bilder zu Messwerten werden, hat schon auch etwas Fetischistisches, das hat natürlich auch mit den wirklichen Interessen unserer Gesellschaft zu tun."

Aber auch der Einwand, die theoretische Durchdringung des Spiels erzeuge nur eine Scheinrationalität, ist selbst umgekehrt nur eine Art Scheinirrationaität. Denn selbstverständlich verbessert eine Analyse das Spielverständnis, selbstverständlich steigen die Erfolgsschancen eines Teams durch Analyse, Laktatwerte und Berechnungen gegnerischer Schwächen.

Kontrolle und Bemächtigung des Zufalls durch Erzählung

Was zeigt "Deep Play" darüber hinaus einem Fußballliebhaber über das Spiel? Die Installation hilft, Fußball als Erzählung und Inszenierung zu begreifen. Denn zwar verstärkt die Installation - nur scheinbar paradoxerweise - den Eindruck von der Ohnmacht der Analyse. Zwar wird man nie - oder jedenfalls noch sehr lange nicht - vorhersagen können, wie ein Spielergebnis lauten wird. Kontrolle und Bemächtigung des Sports, des Zufallsfaktors, der im Spiel liegt, entstehen aber nicht allein durch zutreffende Prognosen. Sie entstehen genauso durch jene Konstruktion, die jede Erzählung bildet.

Schließlich wäre es auch naiv zu glauben, die Darstellung und digitalisierte Aufbereitung des Fußballs im Fernsehen hätte keinerlei Rückwirkung auf das Spiel selber: "Die Seefahrer hatten ja auch eine ganze andere Orientierung, nachdem die Welt kartografiert war. Genau so ist das beim Fußball. Weil es so viele Bilder gibt, ganz gleich, ob digital oder analog, entwickelt ein Fußballer natürlich ein ganz anderes Bewusstsein vom Spielzusammenhang."