Vom Schreiber zum Leser

Ein Kongress am Rande Berlins beschäftigte sich mit der Zukunft der Literatur.

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Ein Bestseller-Autor veröffentlicht seinen neuen Roman im Netz, um die herkömmlichen Distributionskanäle zu unterlaufen; Verlage fühlen sich auf den Plan gerufen; die Buchindustrie steht vor ähnlichen Fragen, wie sie bereits die Musikindustrie seit längerem plagen. Zeit also auch in der verstaubten Bücherwelt ein Gipfeltreffen einzuberufen.

Vor diesem knapp skizzierten Hintergrund haben einige Literaturwissenschaftler die Veranstaltung "Elektrolit - Lesen und Schreiben im digitalen Zeitalter" im LCB organisiert.

Das LCB (Literarisches Colloquium in Berlin) ist untergebracht in einer herschaftlichen Villa direkt am Wannsee. Dieser entrückte Ort schien das Paradoxon dieses Kongresses nur zu unterstreichen. Man hatte vor zwei Welten miteinander in Dialog treten zu lassen, die so gar nicht recht miteinander wollen. Und doch sollte es anders kommen: der schmucke Bau, die feingekleideten ZuhörerInnen, standen im angenehmen Gegensatz zu den omni-präsenten E-books und Laptops - Anachronismen bieten noch immer ergiebige Quellen für Lifestyle-Entwürfe. Während also die Sonne sich über den Wannsee senkte, summten die elektronischen Gadgets in den Abend hinein.

In der Tat bot die von Bertelsmann finanzierte Veranstaltung ein entspanntes Forum. An drei Tagen kam man zusammen, um die Entwicklungen der letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Obwohl die Moderatoren stets darauf bedacht waren, die Geschehnisse zu historisieren, Etiketten, wie 80er und 90er, schnell zur Hand waren, hatte man nicht unbedingt den Eindruck, dies solle Abgrenzungen schaffen, um umso schärfer die Gegenwart, oder gar die Zukunft ins Visier zu nehmen.

So war die Feststellung Stephan Porombkas, der als einer der Veranstalter am Freitag letzter Woche die Eröffnungsrede hielt, dass nun die grossen Namen im Netz angekommen sind, zwar richtig und am Puls der Zeit orientiert. Die Tatsache jedoch, dass King und Chrichton nun auch mitmischen, hat an sich wenig über das spezifische Potential des Netzes für die Literatur auszusagen. Dass das Netz nun auch als Marketing-Tool für Großverlage herhalten muss, ist ein Teilaspekt der Erfolgsgeschichte des Netzes, jedoch kein Hinweis auf Möglichkeiten, die das Medium von anderen unterscheidet. So wurde der samstägliche Vortrag von Matthias Politycki zwar positiv aufgenommen - der Autor hatte für Aspekte Online einen Roman in Serie geschrieben - doch bereits am ersten Abend wurde von Siegfried Zielinski auf zweierlei hingewiesen:

Bereits in der Frühphase der Tageszeitung, also vor mehr als einhundert Jahren, gab es das Format Fortsetzungsroman. Politycki als das Beispiel für einen Cyber-Literaten dargestellt zu sehen, konnte demnach allenfalls als Signal verstanden werden, dass erste Annäherungsversuche stattgefunden haben. Politycki sprach mit großer Offenheit über diese Begegnung der dritten Art: wie neu es für ihn war nicht den Briefkasten, sondern auch die Mailbox nach Post zu durchsuchen, etc. Zielinskis zweite entscheidende Zurechtweisung war, dass der Stephen King-Fall vorallem einen Aspekt der Netze veranschauliche: Faktor Zeit. Also nicht die Tatsache, dass King mehrere hunderttausend Dollar ohne zutun seines Verlages verdient hatte, sondern, wie schnell das Geschäft abgewickelt wurde. Als Lade- und Zahlungsbuttons rund 500.000 mal betätigt wurden, brach der Server zusammen. Kaum 24 Stunden waren vergangen...

Neben den theoretischen Gallionsfiguren, darunter Boris Groys, Sigrid Löffler, Peter Weibel und Norbert Bolz, war das Podium vorallem von Leuten aus der Branche eingenommen worden - also von Hardware-Herstellern und Verlegern , und von Literaten, die deren Produkte getestet hatten und über ihre Eindrücke Auskunft gaben. Am eindrucksvollsten sprach Peter Glaser von seinen Erlebnissen mit den neuen Geräten und drehte am Ende seines Vortrags noch eine "kulturpessimistische Ehrenrunde": Indem er auf eine Ankedote aus Afrika verwies - Stammessymbole hätten den Zugang zum Computernetz selbst Analphabeten ermöglicht - öffnete er die Sicht auf ein "transalphabetisches Zeitalter" und spekulierte ironisierend, ob die USA nicht deswegen so stark in VR-Technologien investiere, weil sie das Bildungsdefizit ihrer Bevölkerung in Zukunft mittels Vergabe von VR-Brillen und Handschuhen - ein Griff genügt - bekämpfen wolle.

Während die einen über die Mühen des Lesens klagten, beschwerte sich Groys hingegen über die Mühen des Schreibens. Er spreche seine Reden und Texte erst auf Band und lasse sie dann abtippen - folglich träume er eine Technologie herbei, die Stimmen aufzeichnen und Gesprochenes in Textform zu speichern im Stande ist (voice recognition technology). Doch bevor diese Technologie wirklich perfektioniert sein wird, dürfte die Hardware-Debatte noch einige Zeit eher bodennah weiterlaufen. Christian Ankowitsch, Ressortleiter ZEIT-Leben, gab einen scharfzüngigen wenn auch nicht immer konstruktiven Kritiker ab. Zurecht hinterfragte Ankowitsch die Notwendigkeit und langfristige Legitimität der neuen Lesegeräte, und sprach angesichts der Vorstellung seine persönliche Bibliothek in Buchformat auf einer einsamen Insel jederzeit abrufen zu können von einem Scheinargument.

Blieben Leute wie Rainald Goetz mit seinem Online-Projekt "Abfall für Alle" durchwegs als "Little Big Brother" gebrandmarkt auf der Strecke, so wusste man dem Feindbild erstaunlich wenig entgegenzuseten, wie es das Wortmeldungen aus dem Publikum vermochten. Zu sehr verharrte der Kongress in Denkschemata, innerhalb derer die Ideen des Buches und der Literatur im Zeitalter der Digitalisierung verhandelt wurden. Doch was es bedeutet heutzutage zu lesen und zu schreiben, das blieb weitestgehend unangetastet und unerforscht. Wie sich das Verhalten des Wortkonsumenten ändert, wenn Tageszeitungen ihr Angebot nun auch Online stellen, oder die Inhalte der Tagespresse auch als Newsletter erhältlich sind, wie zB im Falle der Berliner Zeitung und der Süddeutschen Zeitung, wie LeserInnen mit der wachsenden Präsenz von Online-Only-Magazinen umgehen, wie diese funktionieren und inweit neue Formen des Schreibens und Lesens gefördert werden, wie man vorallem damit umgeht, dass plötzlich der Mailboxeingang überschwemmt wird mit Newslettern, öffentliche Diskussionen nicht nur elektronisch, sondern per Briefpost ausgetragen werden und journalistische und literarische Inhalte formal miteinander verschmelzen - all das blieb unerwähnt.

Einzig Boris Groys vermochte einen Ausblick auf Lesen und Schreiben in der digitalen Ära auszubreiten: Erneut sprach er von dem Tod des Autors und verkehrte dabei ein Ideal der Netzkultur der 90er, demnach jeder Leser auch zum Schreiber werden könne, in ein Ideal für die Zukunft, demzufolge jeder Schreiber zum Leser werden solle, Schreiber fortan nicht Produzenten, sondern vielmehr "Kuratoren" von Texten sein sollten. Er nahm es nicht in den Mund, aber es ging ihm um das Prinzip der Montage. Merkwürdig: Von Tom Kummer wollte trotzdem niemand etwas wissen. Angesichts der Tatsache, dass soviel Altstars mit von der Partie waren, "alt" in dem Sinne, dass sie bereits in allen anderen kulturellen Bereichen ihren Beitrag geleistet hatten, muss die Ignoranz gegenüber einer Figur wie Kummer als inhaltliches aber auch als Casting-Manko verbucht werden.