Können fehlende Deutschkenntnisse über Leben und Tod entscheiden?

Zu den Voraussetzungen für eine Lungentransplantation gehören auch ausreichende Deutschkenntnisse

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die 49-jährige Selvi B. leidet seit Jahren unter einer schweren Lungenerkrankung und ist deshalb auch schon lange in medizinischer Behandlung. Auch mehrere Klinikaufenthalte hat sie schon hinter sich. Im Oktober 2011 wurde sie auf die Warteliste für eine Lungentransplantation an der Medizinischen Hochschule Hannover aufgenommen. Doch die Ärzte haben der in der Türkei geborenen und seit 1980 in Deutschland lebenden Frau zunächst die Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse empfohlen, bevor eine Transplantation in Betracht kommt.

Baki Selcuk von der Föderation der Arbeitsimmigranten in Deutschland reagierte empört und vermutete "Rassismus in den Kliniken". "Spricht nicht ausreichend deutsch, muss sterben", ist die Agif-Pressemitteilung zu dem Fall überschrieben.

Professor Tobias Welte vom Institut für Pneumologie an der MHH weist gegenüber Telepolis den Vorwurf des Rassismus entschieden zurück „In unserer Klinik sind in den vergangenen Jahren auch Patienten mit Migrationshintergrund erfolgreich Organe transplantiert worden“, betont er. Ausreichende Deutschkenntnisse seien aber eine Voraussetzung dafür, erklärt der Mediziner.

"Ausreichende Deutschkenntnisse sind für die Mitwirkungspflicht des Patienten nötig"

Er verweist auf die Vorgaben des Transplantationsgesetzes, an die sich die Klinik halten müsse. Es schreibt für die kostenaufwendige Organtransplantation strenge Kriterien vor. Da die Nachfrage nach Spenderorganen wesentlich größer als das Angebot ist, werden lange Wartelisten geführt. Die Patienten werden genau untersucht, bevor sie dort geführt werden. Dabei darf nicht nach finanziellen und sozialen Kriterien, sondern allein nach Dringlichkeit und Erfolgsaussicht der Operation entschieden werden.

Dazu gehört auch eine aktive Mitwirkungspflicht der Patienten für die Wiederherstellung ihrer Gesundheit, betont Welte. In diesen Kontext können auch Auflagen gehören, die die Patienten erfüllen müssen, bis sie in die engere Wahl eines Spenderorgans gezogen werden. "Einem Raucher wird zur Auflage gemacht, seinen Zigarettenkonsum einzustellen. Ist er dazu nicht bereit, wird eine Lungentransplantation abgelehnt", nennt Welte ein Beispiel. Der Zusammenhang zwischen dem Zigarettenkonsum und einer transplantierten Lunge ist dem medizinischen Laien allerdings einsichtiger als ausreichende deutsche Sprachkenntnisse.

Doch Welte begründete diesen Punkt damit, dass gewährleistet sein muss, dass die Patienten mit möglichen gesundheitlichen Komplikationen, die nach der Transplantation entstehen können, richtig umgehen können. So würden häufig die exakten Anweisungen für die Medikamenteneinnahme telefonisch erfolgen. Da Patienten nach einer Transplantation eine Menge unterschiedlicher Medikamente einnehmen müssten und eine fehlerhafte Dosierung erhebliche gesundheitliche Konsequenzen haben kann, müsse vor der Transplantation gewährleistet sein, dass die Patienten diese Anweisungen auch sprachlich verstehen.

Ermessungsspielraum der Ärzte besteht

Auch der im Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte engagierte Mediziner Wulf Dietrich betont im Gespräch mit Telepolis, dass das Bestehen auf deutsche Sprachkenntnisse als Voraussetzung für eine Transplantation nicht von vornherein unter Rassismusverdacht gestellt werden sollte. Dazu müsste man sich die Vorgeschichte des Falles genauer ansehen.

Allerdings sieht er im Transplantationsgesetz gewisse Ermessungsspielräume für die Ärzte. Es müsste geprüft werden, ob die Mitwirkungspflicht der Patienten auch bei schlechten Sprachkenntnissen erfüllt werden könnten, beispielsweise durch die Hinzuziehung von Übersetzern. Er selber habe schon an einem aus Afghanistan stammenden Mann eine Herztransplantation durchgeführt, obwohl er keine Deutschkenntnisse hatte.

Der Fall von Selvi B. mag noch ein Sonderfall sein, der auch bei Flüchtlingsräten noch völlig unbekannt ist. Aber solche Fälle könnten künftig zunehmen. Schließlich sind viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland älter geworden, sie leiden an schweren Krankheiten und sind auf ambulante und stationäre Pflege angewiesen. Der Fall Selvi B. zeigt aber einmal mehr, dass auch das Gesundheitssystem in Deutschland darauf nicht vorbereitet ist und daraus zumindest eine strukturelle Benachteiligung für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen oder auch allgemein mit einem reduzierten Sprachschatz entstehen kann.