Keine Frage - dir fehlt der Dreitagebart (nicht)

Außer Kontrolle

Ach, unauffällig bzw. nicht verdächtig zu sein ist so schwer geworden. Der heutige Tip: Kein Dreitagebart, keine blasse Hautfarbe - aber hilft das wirklich?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jaja, die ewig Gestrigen überlegen natürlich wieder, ob die Halswürgeprozedur, die jemand anwendet, angemessen ist. Aber das ist doch eigentlich nicht die Frage. Vielmehr ist spannend zu wissen: Wie bin ich nicht auffällig?

Aber beginnen wir von vorne. Der Dreitagebart ist ja, wie auch die Ärzte ihn besangen, per se cool, lässig, zeugt von einer direkten Undiszipliniertheit, einem Unwillen, sich an irgendwelche bizarren Traditionen anzupassen usw. Zusammen mit einer blassen Hautfarbe ist er für manchen Polizisten offenbar schon ein Merkmal eines Junkies. Jedenfalls hat genau dies ein Polizist angegeben, der meint, ein blasshäutiger Mensch mit Dreitagebart würde "ins Schema" des Junkies passen.

Nach Aussage des Betroffenen gestaltete sich das Ganze wie folgt, glaubt man den diversen Medienberichten:

"EADS-Mitarbeiter Murat S. war auf dem Weg zum Zug nach Ulm, um seine Eltern zu besuchen. Er zog einen Trolley hinter sich her und aß Pommes frites aus einer Tüte. Plötzlich packte ihn ein Mann mit festem Griff an der Kehle und schrie: "Spuck's aus!" Der 33-jährige S., der durch die Attacke einen Bluterguss am Kehlkopf erlitt und danach eine Woche nicht mehr richtig schlucken konnte, spuckte aus - ein angekautes Stück Pommes.

Das veranlasste den Polizisten allerdings zu keiner Änderung seines Verhaltens, im Gegenteil: Zusammen mit einem Kollegen nahm er Murat S. auch noch fest, sperrte ihn in der Bahnhofsinspektion in eine Zelle und wies ihn an, sich für eine eingehende Drogenkontrolle nackt auszuziehen. Murat S. kam erst wieder frei, als er sich massiv beschwerte und den Beamten mit einer Anzeige drohte."

So jedenfalls berichtet es die Süddeutsche Zeitung, die den Fall beleuchtet und auch die Ansichten des Polizisten und der Richter veranschaulicht.

Der Polizist beispielsweise meinte, er habe den Betroffenen vorher angesprochen, er wollte ferner verhindern, dass der Betroffene (Murat S.) die Drogen, von denen der Polizist annahm, er habe sie im Mund, herunterschluckte. Wieso ihm, der er darauf aus war, Junkies (Drogenabhängige) ausfindig sowie dingfest zu machen, Murat S. auffällig vorkam, ist schnell erklärt: Der EADS-Mitarbeiter war blasshäutig und unrasiert.

So schreibt die SZ weiter: "Der 27-jährige Polizist hatte nach Junkies Ausschau gehalten und war auf Murat S. aufmerksam geworden. Mit seinem Dreitagebart und dem blassen Teint habe S. genau "ins Schema" gepasst, rechtfertigte sich der Polizeibeamte vor dem Richter."

Jaja,. so zeigt sich mal wieder, wie versiert die Polizisten von heute doch sind. Dreitagebart, blasser Teint: Drogenabhängiger - ergo: unbedingt festzunehmen und zu misshandeln.

Aber damit nicht genug - solch Verdächtige zeigen sich dann auch noch renitent und werden durch aufmüpfige Richter gedeckt. So heißt es weiter im Artikel der SZ:

"Richter Müller reagierte entsetzt auf das Verhalten des Polizisten: Es habe 'nicht den Hauch eines Anfangsverdachtes' gegen Murat S. gegeben. Es wäre in Ordnung gewesen, dessen Ausweis zu kontrollieren, ein Griff an den Hals habe 'in dieser Situation aber nichts verloren' gehabt, so der Vorsitzende. 'Ihnen hat einfach sein Gesicht nicht gefallen', wirft Müller Julian N. vor, der 'in eigener Großherrlichkeit' gehandelt und 'über die Stränge geschlagen' habe. Dass sich der 33-Jährige in der Polizeiinspektion auch noch völlig nackt ausziehen musste, nannte Richter Müller 'eine Demütigung für einen unbescholtenen Bürger'."

Für den Polizisten Julian N. allerdings war alles in Ordnung, auf einen Strafbefehl mit einer Strafe in Höhe von 90 Tagessätzen reagierte er denn auch mit einem Einspruch, was nun zu einem Schuldspruch mit 120 Tagessätzen führte.

Für den Polizisten ist weiterhin seine Reaktion völlig angemessen, immerhin sei der von ihm angesprochene und angegriffene Herr ja verdächtig aussehend gewesen.

So einfach ist denn das Weltbild der Polizisten, was bedeutet, dass die Menge derjenigen, die nach und nach befürchten müssen, von irgendwelchen "Du-passt-ins Schema-Polizisten" schikaniert, misshandelt, mit diversen Anzeigen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt usw. bedachten Freunden des Gewaltmonopols bedacht zu werden, zunimmt. Mal ist es der dunkelhäutige Mensch, der per se verdächtig ist, mal reicht der blasse Teint und der Dreitagebart. Sich so zu verhalten, dass kein Polizist sich berufen fühlt, auf Grund seiner persönlichen Verdachtsmomente das Gewaltmonopol insbesondere im Hinblick auf Gewalt mal auszunutzen, wird insofern immer schwieriger.

Für die Polizei ist dies allerdings kein eigenes Problem. So zeigte sich in Rosenheim, dass die arme gequälte Polizistenseele nicht nur darunter leidet, dass sich Menschen plötzlich mit verändertem Gesichtsausdruck zeigen - auch die Richter sind zunehmend auf der verkehrten Seite der Gut-und-Böse-Idee und teilen den Polizisten doch tatsächlich mit, dass es nicht so einfach ist, eine Wohnung ohne Erlaubnis des Besitzers zu betreten.

"Grundsätzlich braucht man für das Betreten einer Wohnung erst einmal einen Durchsuchungsbeschluss", teilte der Richter dem Polizisten mit, der der Meinung war, dass es völlig in Ordnung sei, sich gegen das Türschließen durch eine befragte Dame dadurch zu wehren, dass der Fuß des Ordnungshüters einfach zwischen Tür und Rahmen geschoben wird. Tja, wenn die Ansichten der Polizisten sich immer mehr der Law&Order-Ideen im Fernsehen, die von Drohungen und Pseudodeals bis zu Folter alles ermöglichen, angleichen, dann hat der von der Polizei argwöhnisch beobachtete Mensch letztendlich keine Chance, als Nichtverdächtiger angesehen zu werden. Die Gewalt, die ihm gegenüber dann ausgeübt wird, ist natürlich nur im Sinne des Guten, und falls er sich wehrt, so ist dies dann höchstens wieder eine Zahl in der Statistik der Gewalt gegen Staaatsbeamte, welche dann wieder zu neuen Gesetzen und neuen Vorurteilen führt, weil jeder, der wie der hier betroffene EADS-Mitarbeiter sich nicht mit den Vorurteilen und den daraus resultierenden gewalttätigen Aktionen der Polizei abfinden will, automatisch als Widerständler gegen die Staatsgewalt angesehen wird und die Hintergründe völlig unwichtig sind.

Dreitagebart und blasser Teint, das lernen wir somit, sind also unpassend. Zu dunkler Teint ist auch verdächtig, ein sonnengebräunter Teint, ein schnuckelig rasiertes Gesicht könnte allerdings auch dazu führen, dass der freundliche Polizist von Nebenan jemanden als südländischen Dealer einordnet.

Was bleibt? Trotz der Verurteilung des Polizisten nur der deprimierende Gedanke, dass solcherlei Vorurteile und die Ausnutzung des Gewaltmonopols bei der Strafverfolgung nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind.