"Extrem aggressive Arbeitsmarktreform"

Spanien will mit einer weiteren Arbeitsmarktreform die Rekordarbeitslosigkeit bekämpfen

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Die neue konservative Regierung hatte im Dezember eine Arbeitsmarktreform angekündigt, falls es die Tarifparteien bis Januar nicht schaffen, sich auf eine Reform zu einigen. Nun hat die Regierung unter Mariano Rajoy sie am Freitag als Dekret beschlossen, um die Maßnahmen sofort wirksam werden zu lassen. Nach der Veröffentlichung im Gesetzesblatt sollen sie schnell in Kraft treten.

Nach Angaben der Regierungssprecherin Soraya Sáenz de Santamaría werden angesichts der Rekordarbeitslosigkeit die "Einstellungen gefördert", "feste Vertragsverhältnisse gesteigert" und die Arbeitsbeziehungen "flexibilisiert". Die Vize-Ministerpräsidentin kündigte auch einen "Kampf" gegen die Schattenwirtschaft an.

Arbeitsministerin Fátima Báñez sagte, man richte sich mit der Reform an die 5,3 Millionen Arbeitslosen – die Quote liegt bei 23 Prozent - und "vor allem an junge Menschen, die bisher keinerlei Chancen haben", wo jeder Zweite schon arbeitslos ist. Zentraler Bestandteil der Reform ist, die Abfindungen zu senken. Statt 45 Tagen Abfindung pro gearbeitetes Jahr sollen generell nur noch 33 Tage als Abfindung bei "unbegründeten" Entlassungen bezahlt werden, auch wenn das Unternehmen kräftige Gewinne schreibt. Sinken die Umsätze neun Monate lang oder werden Verluste verzeichnet, sollen für "begründete" Kündigungen nur noch 20 Tage als Grundlage gelten.

Gehofft wird, dass die Firmen eher einstellen, wenn sie Beschäftigte billiger kündigen können. Gleichzeitig sollen aber Kettenverträge eingeschränkt werden. Nur noch zwei Jahre sollen die Beschäftigten mit befristeten Verträgen in einem Unternehmen eingesetzt werden können. Damit will man die ausufernde Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse beschränken. Mehr als 90 Prozent aller neuen Verträge sind befristet. Geschaffen wird ein sogenannter "unbefristeter" Arbeitsvertrag, der eine Probezeit von einem Jahr einschließt, in der jederzeit gekündigt werden kann. Gefördert wird die Einstellung von jungen Arbeitslosen unter 30 Jahren mit 3.000 Euro. Werden Langzeitarbeitslose eingestellt, wird das mit 4.000 Euro gefördert. Vorgesehen sind auch eine Art Ein-Euro-Jobs nach deutschem Vorbild, wenn Arbeitslose zu Arbeiten im "allgemeinen Interesse der Gemeinschaft" herangezogen werden.

So ist verständlich, warum Ministerpräsident Rajoy auf dem EU-Gipfel im Januar seinen Kollegen erklärte, dass ihn die "Arbeitsmarktreform einen Generalstreik kosten wird". Seinem Wirtschaftsminister passierte es ebenfalls am Donnerstag in Brüssel, dass seine Worte von Kameras mitgeschnitten wurden, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Luis de Guindos, beim Absturz der US-Investmentbank Lehman Brothers in deren Leitung, hatte zu EU-Währungskommissar Olli Rehn gesagt, die Reform werde "extrem aggressiv sein". Rehn, der für die EU-Kommission seit vielen Monaten eine Arbeitsmarktreform in Spanien fordert, gab viel sagend zurück: "Genial."

Die Gewerkschaften bewerten die Reform als eine Art Kriegserklärung, weil die Regierung nicht einmal versuchte, mit ihnen darüber zu verhandeln. Ohnehin hatten sie schon die Reform der Vorgängerregierung im September 2010 gestreikt. Strukturell war sie ähnlich, doch hatten die Sozialisten (PSOE) die Abfindungen bei unbegründeten Entlassungen bei 45 Tagen belassen, nur bei Verlusten konnten sie auf 20 Tage gesenkt werden.

Stets muss bei den relativ hohen Abfindungen das niedrige Lohnniveau in Spanien beachtet werden. Weil es eine Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe, die den Namen verdienen würde, nicht gibt, hatten sie eine andere Funktion. Die Abfindungen sichern Arbeitslosen für die Zeit ab, wenn sie nach höchstens zwei Jahren kein Arbeitslosengelt mehr erhalten. Etwa eine Million Menschen soll schätzungsweis längst keinerlei Unterstützung mehr im Land erhalten. Sie sind auf Schwarzarbeit, Betteln oder Diebstahl angewiesen, wenn sie mit ihren Familien nicht verhungern wollen. Wie die Regierung gegen die Schattenwirtschaft vorgehen will, ohne eine Sozialhilfe aufzubauen, die das Existenzminimum sichert, bleibt ihr Geheimnis.

Angesichts der Tatsache, dass die Reform 2010 keine Neueinstellungen gebracht hat, sondern die Arbeitslosigkeit sogar noch deutlich ansteigen ließ, darf daran gezweifelt werden, dass Rajoy mit dieser Reform etwas erreicht. Interessant ist, dass die PSOE erst im vergangenen Herbst die Regelung zu Kettenverträgen wieder aufgehoben hat, um Einstellungen nicht zu verhindern, welche die Volkspartei (PP) praktisch nun wieder reaktiviert. So geht auch der Ministerpräsident davon aus, dass die Arbeitslosigkeit 2012 weiter steigen wird. Er hofft aber, dass sich langfristig die Wettbewerbsfähigkeit Spaniens verbessert. In welchen Bereichen sie verbessert werden soll, wenn die Investitionen in Forschung und Entwicklung zusammengestrichen werden und gerade mit den erneuerbaren Energien einem Zukunftssektor der Todesstoß versetzt wird, ist fraglich. Deshalb hatten die Konservativen erstmals in der Geschichte des Landes aber auch den schmalen Mindestlohn von 641 Euro nicht einmal an die Inflationsrate angepasst.

Experten bezweifeln, dass mit diesen Maßnahmen die Arbeitslosigkeit real bekämpft werden kann. Erwartet werden statistische Effekte, weil Ein-Euro-Jobber nicht mehr als Arbeitslose registriert werden. Negative Effekte werden für die in der Rezession steckenden Wirtschaft wegen der Konflikte und Streiks erwartet, die als Reaktion auf die dekretierte Reform kommen werden. Die beiden großen Gewerkschaften haben schon Demonstrationen angekündigt. Ohnehin gibt es Erfahrungen. 2002 hatte die PP schon einmal per Dekret eine harte Reform durchzudrücken, die musste José María Aznar aber angesichts des Widerstands fast vollständig zurücknehmen, wobei es den Generalstreik nach Lesart der Konservativen aber praktisch gar nicht gegeben haben sollte.