Türkische Wähler entmachten Militär

In einem Volksentscheid hat sich eine Mehrheit für einen stärkeren demokratischen Rechtsstaat ausgesprochen

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In der Türkei hat die Demokratie wieder einen Schritt nach vorne gemacht – und das ausgerechnet dank der islamisch geprägten Regierungspartei AKP. In einem Volksentscheid hat sich eine deutliche Mehrheit für einen Zusatz zu der aus den Zeiten der durch einen Putsch 1980 zustande gekommene Militärherrschaft stammenden Verfassung ausgesprochen, die die Macht des Militärs beschränkt und damit die Verfassung auch den Anforderungen der EU zu einer möglichen Mitgliedschaft anpasst. Die Generäle hatten sogar in die Verfassung eingeschrieben, dass niemand wegen des Putsches belangt werden darf. Dieser nicht gerade rechtsstaatliche Artikel 15 wurde jetzt mit dem Volksentscheid aus der Verfassung entfernt.

Für die Regierung von Ministerpräsident Erdogan ist die unerwartet hohe Zustimmung von 58 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von fast 80 Prozent ein Erfolg und eine Bestätigung ihrer Reformpolitik. Bewusst hatte man den Volksentscheid am 12. September auf den 30. Jahrestag des Militärputsches gelegt. Die oppositionelle säkulare, aber auch nationalistische CHP hatte versucht, den Volksentscheid zu einem Entscheid über die Regierung zu machen. Sie wirft dieser vor, mit der Verfassungsänderung die Justiz stärker in ihre Hände zu bekommen und ihre Unabhängigkeit zu beschneiden, was allerdings auch von ausländischen Beobachtern nicht so gesehen wird. Die Kurdenpartei BDP hatte zum Boykott aufgerufen, dem auch viele Kurden folgten, weil die Belange der Kurden nicht berücksichtigt wurden, beispielsweise die Herabsetzung der 10-Prozent-Hürde. Im Süden der Türkei und in Istanbul kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, weil Gegner des Volksentscheids Wähler an der Teilnahme zu hindern suchten.

Mit der Änderung wird das Verfassungsgericht aus der Hand des Militärs genommen, bei der Berufung der nun von 11 auf 17 erhöhten Zahl der Richter haben Regierung und Parlament mehr Einfluss. Auch Einzelpersonen können nun vor das Verfassungsgericht ziehen, das 2008 noch die AKP aus durchsichtigen politischen Gründen verbieten wollte. Auch der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte, der große Macht hat, weil er über die Berufung und Versetzung aller Richter und Staatsanwälte entscheidet, wird zahlenmäßig aufgestockt und ziemlich kompliziert besetzt, was aber den Kemalisten die bislang praktizierte Macht beschränken wird.

Ein wichtiger Schritt ist, dass Militärgerichte nicht mehr über Zivilisten urteilen dürfen und dass Militärangehörige, wenn sie die Verfassung verletzt oder die Staatssicherheit gefährdet haben, auch vor Zivilgerichte gestellt werden können. Zudem wird Staatsangestellten nun das Streikrecht eingeräumt, die Möglichkeit, politisch motivierte Streiks zu verbieten, wird aufgehoben. Gestärkt werden soll auch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.