"Gegen das Argument 'Morgen kann vielleicht etwas passieren' ist kein Kraut gewachsen"

Winfried Hassemer, Datenschützer und Verfassungsrichter, zur Unstillbarkeit der Sicherheitsbedürfnisse des Staates

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Irgendwann in den letzten Jahren ist der zuvor so häufig gebrauchte Begriff "Streitkultur" aus dem gängigen Vokabular der Journalisten und Talker verschwunden; er war reichlich abgedroschen und bloß mehr Phrase. Angesichts vieler Diskussionen heute wünschte man ihn fast wieder zurück.

Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer, der gestern gestorben ist, stach exemplarisch als Person hervor, die einer Leerformel wie Streitkultur erst Geltung verschafft. Davon zeugt nicht nur sein - zusammen mit seinem Sohn Michael - geäußertes Lob Lob für die Urheber des Streits über Freiheit und Eigentum im Urheberrecht – zu einer Zeit, Frühsommer 2012, als die Piraten noch für inhaltliche Diskussionsbeiträge berühmt waren und der Streit über das Urheberrecht derart brisant war, dass das Thema bei fast jeder Gelegenheit auf den Tisch kam und Freundschaften zwischen Autoren und Nutzern einer echten Belastungsprobe ausgesetzt waren.

Hassemer, der zeigte, dass ein Jurastudium weit mehr als ein Karriereschritt Richtung Heuschreckenberater sein kann, bezog öfter Positionen jenseits der Mehrheit bei besonders heiklen Punkten. Immer mit starken Argumenten - man musste die Meinung nicht teilen, aber seine Begründungen drängten zu einer Auseinandersetzung, in der man sich es nicht leicht mit Einverständnis oder Gegenmeinung machen konnte, ob es um die Strafbarkeit der Holocaust-Leugnung ging, das Beschneidungsgesetz oder Inzest.

Die meisten dürfte Hassemer vor allem als Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts aufgefallen sein. Den Posten bekleidete bis 2008. Dass er zuvor - von 1991 bis 1996 - hessischer Datenschutzbeauftragter war, ist nicht so bekannt. Dies hat sich aber in vielen Bewertungen und Äußerungen zu Themen widergespiegelt, die hochaktuell sind. Hassemer war Gegner elektronischer Mautsysteme, die Bewegungsprofile ermöglichen und legte nahe, „dass die Gesellschaft sagt: Ich vertraue den Daten aus dem Internet nicht. Denn ich weiß, wie die zustande kommen. Das wäre eine neue Form der Privatheit, die nicht nur den jungen Leuten zugutekommt.“

Er war ein scharfer Beobachter dessen, welche Dynamik die Sicherheitsfixierung der modernen Staaten in Gang setzt: Gefühlte Sicherheitslücken rufen nach Prävention und präventiv ausgerichtete Rechtsgebiete zur beständigen Verschärfung. Aus einem Streitgespräch mit Wolfgang Schäuble:

"Ich will jedenfalls auf dieses Problem aufmerksam machen: Sicherheitsbedürfnisse sind strukturell unstillbar. Es ist gegen das Argument 'Morgen kann vielleicht etwas passieren' kein Kraut gewachsen. Aber es muss ein Kraut dagegen gewachsen sein, wir können uns nicht immer weiter treiben lassen durch ein mögliches Bedrohungsszenario, können uns nicht leisten, alles abzuschneiden an den Grundrechten, was noch abgeschnitten werden kann. Ich habe immerhin den Eindruck, dass ein neues Bewusstsein für Datenschutz und Privatheit kommt."