A Most Wanted Man - oder doch nicht?

Warum der Verfassungsschutz in Wirklichkeit netzpolitik.org angezeigt hat

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Die Reaktion der Medien auf die Farce um netzpolitik.org fiel heftig aus. Prominente Medien und Politiker fordern die Köpfe von Generalbundesanwalt, Verfassungsschutzpräsident und vielleicht auch Bundesinnenminister, wenn dieser seinen Urlaub beendet hat. Bundesjustizminister Heiko Maas hat sich geistesgegenwärtig bereits gestern distanziert und seinem untergebenen Generalbundesanwalt ungewöhnlich offen Nachhilfeunterricht erteilt.

Doch soll man wirklich glauben, dass die mit hochqualifizierten Juristen besetzte Bundesanwaltschaft ernsthaft bereits an der Lektüre des Gesetzestextes von § 94 StGB gescheitert sein sollte? Oder dass ausgerechnet dem zur Spionageabwehr existierenden Verfassungsschutz die Definition des Landesverrats unbekannt wäre? Liegt es wirklich im Bereich des Wahrscheinlichen, dass auch das involvierte Innenministerium mit der Rechtslage überfordert wäre? Und sollte dem Geheimdienst ausgerechnet das Stehvermögen von Geheimdienst-Watchdog Markus Beckedahl unbekannt sein, der sich bereits 2009 bei einem Leak gegenüber der Deutschen Bahn nicht einschüchtern ließ?

Es gäbe da eine wesentlich plausiblere Erklärung: Die Strafanzeige erfolgte nur pro forma mit einem ganz anderen strategischen Ziel.

Der Autor dieser Zeilen vertrat in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt einmal einen untergetauchten Mann, der im Wege der Öffentlichkeitsfahndung mit Foto wegen angeblicher "Anstiftung zum versuchten Totschlag" gesucht wurde. Tatsächlich rechtfertigte bereits die Aktenlage keinen ernsthaften Verdacht eines versuchten Tötungsdelikts, der Angriff verursachte lediglich blaue Flecken und sollte offensichtlich nur einschüchtern. Der Vorfall wurde von der Polizei jedoch offenbar aus taktischen Gründen zum Tötungsdelikt aufgebauscht, um die Öffentlichkeitsfahndung zu rechtfertigen. Die ist nämlich bei kleineren Delikten unzulässig, sondern nur bei schweren Straftaten vorgesehen, die im Katalog des § 100a StPO abschließend erwähnt sind.

Diese Katalogstraftaten sind auch der Schlüssel zu anderen über die normale Strafermittlung hinausgehenden Maßnahmen. Sie rechtfertigen nämlich sogar polizeiliche Lauschangriffe und Artverwandtes. Nach aktueller Planung ermöglicht der Verdacht auf Katalogstraftaten den Zugriff auf Daten aus der *Trommelwirbel* Vorratsdatenspeicherung. Und in diesem Katalog findet sich in § 100a Abs. 2 Nr. 1 a) der *Trommelwirbel* Landesverrat (§ 94 StGB). Mit anderen Worten: netzpolitik.org darf seit Anzeigeerstattung auch nach offizieller Aktenlage elektronisch abgeleuchtet werden.

Wenn Spione also unbequeme Gegner im Inland ausspionieren wollen, die keine für den Verfassungsschutz legitimen Aufklärungsziele darstellen, sind sie auf der juristisch sicheren Seite, wenn sie pro forma eine Verdachtslage nach § 94 StGB herbeiführen, die § 100a StPO auslöst und die damit die elektronische Waffenkammer öffnet. Und dazu ist auch eine bei Tageslicht betrachtete unbrauchbare Strafanzeige gut genug. Und da von einer Strafanzeige der Beschuldigte erst einmal nichts erfährt, ist das ein billiger Schachzug. Der Verfassungsschutz hat sich dieses durchsichtige Manöver von seinem nicht völlig naiven Innenminister eigens absegnen lassen.

Aber bei Ermittlung gegen die Presse sieht § 22 Berliner Pressegesetz eine Verjährungsfrist von einem Jahr vor. Innerhalb dieser Frist war es möglich gewesen, die Ermittlung geheim zu halten. Die Verjährungsfrist kann durch Bekanntgabe der Ermittlung unterbrochen werden, wie es am Donnerstag geschehen ist. Gut möglich, dass zuvor ein Abbruch der Maßnahme geplant war. Vielleicht aber hat man auch ein kleines Skandälchen inkauf genommen, um aus den Datentöpfen zu schöpfen, wenn diese erst einmal zur Verfügung stehen.

Es spricht vieles dafür, dass netzpolitik.org im Gerichtssaal so wenig von Opa Range zu befürchten hat wie dessen Enkel beim Familientreffen oder die NSA. Wo die Blogger tatsächlich bedroht werden, haben sie ausgerechnet in den betroffenen Artikel aufgezeigt: Online. Geheimdienste bringen Zielpersonen nur selten in den Knast, im Gegenteil haben sie etwa im NSU-Skandal die Strafverfolgung sogar behindert und lieber ihre Quellen geschützt. Strategisch wertvoller als Verhaftungen sind die Informationen, die man durch stilles Beobachten abgreifen kann. In der Geheimdienstwelt ist nun einmal nichts, wie es scheint - nicht einmal Strafanzeigen.