"Dumm", "verantwortungslos", "irre"

Regierung, ARD, Bild und Spiegel vereint gegen das Streikrecht der Lokführer

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

50 Stunden bundesweiten Streik hat die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) beschlossen. Mit ihren über 30.000 Mitgliedern vertritt sie 90 Prozent der Lokführer und 30 Prozent der Zugbegleiter. Es gibt aber auch eine handzahmere Gewerkschaft: Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat knapp über 200.000 Mitglieder - allerdings nur wenige Lokführer. Der Deutschen Bahn AG und der Bundesregierung, die sich die Scheingewinne der Bahn als vermeintlichen Privatisierungserfolg auszahlen lässt, ist die Existenz der GDL ein Dorn im Auge.

Arbeitsministerin Andrea Nahles möchte deshalb ein Gesetz verabschieden lassen, wonach es pro Betrieb - also eben für die Deutsche Bahn - nur noch einen Tarifvertrag, also auch nur noch einen Tarifpartner geben soll. Das wäre das Ende für eine Lokführergewerkschaft - und ein stichhaltiger Grund, einmal richtig und nachhaltig zu streiken. Was neu ist: Erstmals können sich Regierung und Bahnführung auf die Unterstützung durch die Massenmedien Bild, Spiegel und ARD stützen.

1750 netto als Verantwortlicher für hunderte Fahrgäste und millionenteure Technik

Auf Verständnis der ohnehin täglich geplagten Bahnreisenden kann die GDL allerdings kaum hoffen. Aus Sicht vieler Pendler befindet sich die Bahn in einem unbefristeten Dauerstreik, seit sie sich von einst über 400.000 Mitarbeitern auf teilweise nur noch 230.000 Beschäftigte krank schrumpfte, Strecken stilllegte und mit marodem Material für ständige Verspätungen sorgt.

Nach 25 Berufsjahren kann ein Lokführer laut Handelsblatt ein Einkommen von 3.010 Euro erreichen - nein, brutto, nicht netto. Für 1.750 Euro netto soll also ein hochprofessioneller Zugführer, der die Verantwortung für das Leben hunderter Passagiere und für millionenteure Technik trägt, im Schichtdienst und an Wochenenden dafür sorgen, dass die Bahn AG "Gewinne" erwirtschaftet, da sie ja "privatisiert" ist.

Mit diesem Einkommen kann er in den Ballungsgebieten, wo der verbliebene Bahnverkehr sich überwiegend abspielt, also etwa in München, Hamburg, Frankfurt, Köln und Stuttgart nicht einmal mehr eine 4-Zimmer-Wohnung für seine Familie anmieten, sondern muss selbst zum Arbeitsplatz pendeln, oft Stunden.

Die Jobagentur findet kein Personal

Zudem schoben die Bahnmitarbeiter Anfang 2014 acht Millionen Überstunden vor sich her. Es herrscht chronische Personalnot nicht nur für Lokführer, sondern auch für Zugbegleiter und Bordpersonal.

Während Jobcenter im Durchschnitt in 80 Tagen einen neuen Mitarbeiter finden, dauert es bei Bahnmitarbeitern 184 Tage, fast ein halbes Jahr. Zu den Forderungen der GDL zählt deshalb auch eine Arbeitszeitverkürzung und längere Ruhepausen.

In den Nachbarstaaten Frankreich, Schweiz, Dänemark und den Niederlanden verdienen Lokführer das Doppelte - trotzdem funktionieren die dortigen Bahnen um Klassen besser als die seit Jahrzehnten heruntergewirtschaftete Deutsche Bahn, die sich als weltweit führender Logistikdienstleister wähnt.

Kann man einen Streik bewerten, ohne dessen systemische Ursachen zu diskutieren? Bereits kurz nach der Bekanntgabe des Streiks, dem übrigens 91 Prozent der befragten GDL-Mitglieder zustimmten, überboten sich deutsche Medien darin, die Unsinnigkeit und Unzulässigkeit des Streiks zu verbreiten.

Sehnsucht nach einer handzahmen Niedriglohn-Gewerkschaft

"Deutschlands dümmste Gewerkschaft" titelte Spiegel-Online. Die Lokführer, so die Hamburger Verkehrsspezialisten, provozierten erst durch den Streik den Einheitstarif. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Aus GDL-Sicht handelt es sich um einen sogenannten "Erzwingungsstreik", also einen Streik um das Recht, überhaupt Tarifverhandlungen zu führen.

Was die Deutsche Bahn besondes aufregt: Die GDL möchte auch für die bei ihr organisierten Zugbegleiter verhandeln, mithin also für eine Berufsgruppe, die aus Sicht der Bahn durch die EVG hinreichend vetreten werde.

Wo der Spiegel gegen das Streikrecht ist, darf auch Bild nicht fehlen. "Dieser Streik macht wütend!", titelt Jan Schäfer in Bild. Allerdings macht er nicht wütend auf die systemischen Missstände der Bahn und die desaströse Verkehrspolitik der Bundesregierung, nein, wütend natürlich auf die streikenden Lokomotivführer:

Das Streikrecht in Deutschland ist ein hohes Gut. Es wurde eingeführt, damit sich Arbeitnehmer gegen übermächtige Chefs wehren können. Doch die Lokführer nutzen diese Freiheit schamlos aus. Sie drangsalieren Millionen Väter, Mütter und Kinder - und verderben ihnen das Wochenende! Wer so verantwortungslos Dampf ablässt, hat sein Recht auf Streik verwirkt.

So eingestimmt, konnte auch die einstige Arbeitnehmerpartei SPD in Gestalt ihrer Generalsekretärin Yasmin Fahimi bei Plasbergs "Hart aber fair" auf den GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky losgehen.

Wo es unsozial zugeht, darf die SPD nicht fehlen

Bereits das Thema der Plasberg-Sendung "Sind wir Geiseln der Mini-Gewerkschaften?" sorgte dafür, dass die Hintergründe des Streiks gar nicht erst zur Sprache kamen. Geschickt versuchte Fahimi, die brave EVG als einzigen Tarifpartner ins Gespräch zu bringen und lobte deren Abschlüsse. Aus ihrer Sicht zu Recht: Die EVG möchte die Niedriglöhne in der Bahn beibehalten und hat schon einmal einen Abschluss mit 1,5 Mehrstunden ohne Lohnausgleich verhandelt.

Die Wahrheit ist, dass Lokführer nicht fünf, sondern 35-50% mehr Lohn benötigen, was auch einige Kommentatoren unter dem Bild-Artikel erwähnen. Überhaupt scheinen die Leser die Hetze gegen die GDL nicht zu goutieren und schreiben zumindest bei Bild tapfer gegen die ihnen unterstellte Mehrheitsmeinung an.

Fahimi drohte in der Talkrunde der GDL mit einem "echten Imageschaden" - angesichts der Berichterstattung von ARD, Spiegel und Bild nicht übertrieben. Die ARD-Hörfunksender, etwa der BR, fragen dann auf Bahnhöfen entnervte Fahrgäste, wie sie den Streik am letzten Wochende der Herbstferien finden und interviewten Bahn-Manager, die "fassungslos" über die "jedes Maß verlorene" GDL sind.

"Was die GDL macht, ist irre", wird Personalvorstand Ulrich Weber gar zitiert.

Millionengehalt für ahnungslosen Personalchef

"Dumm" (Spiegel), "verantwortungslos" (Bild), "irre" (Deutsche Bahn) - kann man von einem breiten Publikum genervter Fahrgäste inmitten dieser Pogromstimmung verlangen, dennoch Sympathie für die Ziele der Lokführer zu empfinden, ja, gar Solidarität? "Ulrich Weber", so schreibt Bild in unfreiwilliger Objektivität, "wurde vom Bahnstreik genauso überrascht wie Millionen Bundesbürger".

Wenn das stimmen sollte - offenbar hat Weber selbst das Bild so gesagt - stellt sich die Frage, wofür Herr Weber ein Jahresgehalt von über einer Million Euro erhält, wenn sein Wissen über die Unzufriedenheit der Mitarbeiter und die Untragbarkeit der Zustände auf dem Level eines Bild-Kommentators steht.

Das Bild-Interview mit dem völlig ahnungslosen Bahnchef endet mit diesem Zitat: "Irgendwer muss der GDL klarmachen, dass sie mit ihrer Haltung das ganze System gefährdet."

Ein marodes, ein kaputtes, ein ungerechtes System. Ein System, das den Standort Deutschland und seine Wirtschaft, die Mitarbeiter und Fahrgäste schädigt. Ein weiterer Grund, den Streik der Lokführer zu unterstützen.