Französisches Nazi-Opfer lehnt wegen Arbeitsmarktreform Auszeichnung ab

Die Regierung überlegt, Streikende zur Aufnahme der Arbeit zu zwingen

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In Frankreich hat die Europameisterschaft begonnen und die Mannschaft hat es im Auftaktspiel gerade noch geschafft, in der vorletzten Minute mit 2:1 knapp Rumänien zu bezwingen. Dieser Sieg kann kaum für gute Stimmung in einem Frankreich sorgen, das sich fast im permanenten Ausnahmezustand befindet. Das verhindern angesichts der Gefahr neuer islamistischer Terroranschläge nicht nur die vielen schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten in den Städten – vor allem in Paris, sondern auch große stinkende Müllhaufen. Auch die Müllabfuhr wird wegen der Arbeitsmarktreform bestreikt, die die Regierung ohne Mehrheit im Parlament per Dekret verordnet hat.

Es war zu erwarten, dass die unnachgiebige Haltung einer abgehalfterten Regierung letztlich zu einem Machtkampf während der Europameisterschaft eskalieren würde. Im Nachbarland werden angesichts der Streiks bei der Müllabfuhr, bei der Bahn, in den Raffinerien, denen sich nun auch noch die Piloten angeschlossen haben, immer autokratischere Überlegungen von der Regierung angestellt, die "sozialistisch" sein will. Sie spricht offen davon, Streikende auch per Dekret zur Arbeit zu verpflichten.

Der Staatssekretär für Verkehr und maritime Wirtschaft droht bereits offen an, Streikende zur Arbeit zu zwingen. "Wenn wir entsprechende Anweisungen geben müssen, werden wir das tun", sagte er. Blockaden von Bahngleisen würden "strafrechtliche und disziplinarische" Konsequenzen haben. Möglich ist eine Zwangsverpflichtung in "Notfällen" und im Verteidigungsfall, um "die Landesverteidigung" zu garantieren. 2011 hatte Nicolas Sarkozy auf diese Option angesichts eines Streiks von Sicherheitsbediensteten an Flughäfen zurückgegriffen. Streikende wurden zur Arbeit gezwungen oder durch Beamte der Polizei oder Gendarmerie ersetzt, um den Streik auszuhebeln.

Mit welcher Dimension eines autokratischen Vorgehens man es bei einer Regierung zu tun hat, die vor den Wahlen genau das Gegenteil von dem versprochen hat, was sie zum Beispiel nun per Dekret durchdrücken will, hat Camille Senon sehr klar zum Ausdruck. Die alte Frau, die ihren 91. Geburtstag am vergangen Sonntag gefeiert hat, ist eine der Überlebenden des Massakers der Nazi-Besatzer im kleinen Oradur-sur-Glane. Vor fast genau 72 Jahren verlor sie dabei 25 Mitglieder ihrer Familie. Sie waren unter den 642 Toten, die die Waffen-SS lebend in der Kirche am 10. Juni 1944 verbrannt oder erschossen hat.

Anlässlich des gestrigen Jahrestags wollte Regierungschef Valls die alte Kämpferin mit einem Verdienstorden auszeichnen, der einst von Präsident Charles de Gaulle geschaffen wurde. Doch Senon lehnte dankend den Versuch ab, mit dem sich Valls ein fortschrittliches Mäntelchen umzuhängen versuchte. Ohnehin musste sie in all den Jahren, in denen sie dafür gekämpft hat, die Kriegsverbrecher zu bestrafen, zusehen, wie sie praktisch straflos davonkamen.

In einem Brief an Valls begründete sie ihre Ablehnung folgendermaßen: "Es ist für mich im aktuellen Kontext unmöglich, die Auszeichnung von Ihnen anzunehmen, denn ich stehe mit voller Solidarität hinter den Kämpfen, welche die Beschäftigten und die Jugend seit zwei Monaten gegen das Arbeitsgesetz führen, das sie per Dekret gegen eine Mehrheit der Bevölkerung und der Parlamentarier über den Artikel 49-3 durchdrücken wollen." Die Annahme der Auszeichnung wäre "eine Verleugnung meines gesamten Lebens für Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit und Frieden…", fügte sie an.

Als sie am 17. Mai den Brief von Valls erhalten habe, sei ihr klar gewesen, dass sie zu diesem Zeitpunkt den Orden nur ablehnen könne, wenn ihre Gewerkschaftskollegen für die Verteidigung ihrer Rechte vor Gericht gezerrt werden. Noch vor zwei Jahren, zum 70. Jahrestag des Massakers, schüttelte sie Valls freundlich die Hand.

Seit 71 Jahren ist Senon Mitglied der Gewerkschaft CGT, die die Streiks in Frankreich federführend vorantreibt und gegen die sich ebenfalls die Arbeitsmarktreform richtet. Sie war einst auch Führungsmitglied der CGT. Und statt sich Verdienstorden umzuhängen, nimmt sie weiterhin lieber in Limoges, etwa 20 Kilometer von Oradur-sur-Glane entfernt, an den Demonstrationen teil, die es auch in dieser Stadt gegen die Arbeitsmarktreform gibt. Es sei offensichtlich gewesen, dass sie die Auszeichnung hätte ablehnen müssen, erklärte die kämpferische alte Frau lapidar, die weiter an ihren Idealen festhält. Das Gesetz sei ein "schrecklicher Rückschritt" und bedeute die allgemeine Verschlechterung der Verhältnisse für die Beschäftigten, ganz im "Sinne der Unternehmer".