Oma wird nicht überfahren

Oma oder Kind? Bild: erincj338/CC-BY-SA-2.0

Bei Vorträgen über autonome Fahrzeuge wird fast immer gefragt, ob im Fall der Fälle das fahrerlose Auto eher die alte Frau als das kleine Kind überfahren würde. Können Roboterautos ethische Entscheidungen treffen? Sollten sie?

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Im vergangenen Jahr sind in Europa mehr als 26.000 Menschen bei Verkehrsunfällen umgekommen. Dazu gab es noch 135.000 Schwerverletzte. Während in der EU jährlich 51 Verkehrstote pro 1 Million Einwohner zu beklagen sind, schneidet Deutschland etwas besser mit 43 Todesfälle ab. Den ersten Platz bei der Verkehrssicherheit belegen jedoch die Schweden mit nur 27 Toten pro Million Einwohner. Einer der Hauptgründe für die Einführung von Fahrassistenzsystemen ist, die Anzahl der Verkehrsunfälle nachhaltig senken zu können. Die Firma Volvo spricht beispielsweise von zukünftigen Autos, in denen kein Passagier mehr tödlich verunglücken kann, da die aktive und passive Sicherheit des Fahrzeugs ausreichenden Schutz für alle Insassen bieten wird.

Es verhält sich anders, wenn man die schwächeren Verkehrsteilnehmer berücksichtigt. Sensoren am Fahrzeug können Fahrradfahrer und sogar Passanten erkennen, aber nicht bei allen vorstellbaren Unfallszenarien. Gegen den Passanten, der zwischen zwei geparkten Bussen auf die Straße rennt, sind weder Kraut noch Sensor gewachsen. Deshalb zerbrechen sich die Autoingenieure den Kopf darüber, wie sogar solche Personen frühzeitig erkannt werden könnten, womöglich unter Ausnutzung des Funksignals ihrer Handys oder mit Hilfe der Videokameras von anderen Fahrzeugen, die dann die akute Gefahr melden. Wie dem auch sei, es ist wohl klar, dass auch in Zukunft manche Arten von Verkehrsunfällen nicht vermieden werden können. Die Frage ist also, wie man dennoch die Folgen minimieren kann.

Oma oder Kind? Bild: erincj338/CC-BY-SA-2.0

Bei Vorträgen über die von meiner Gruppe entwickelten autonomen Fahrzeuge wird deswegen immer gefragt, welche Alternative das autonome Fahrzeug bei einem unvermeidlichen Unfall wählen würde, bei dem es nur die Entscheidung gäbe, in der einen Spur ein Kindoder in der Nachbarspur eine alte Frau zu überfahren. Anders gesagt: Kann das Fahrzeug ethische Entscheidungen treffen und sich womöglich für die Rettung des Kindes entscheiden, wodurch die alte Frau dran glauben würde? Kurioserweise ist bei solchen Fragen das Opfer immer weiblich, niemals ein älterer Herr (und meistens stellt ein Mann die Frage).

Auf eine solche Frage in kurzer Zeit eingehen zu können ist für mich immer undankbar, besonders wenn noch dazu ein Philosoph in der Diskussionsrunde sitzt und er oder sie von Maschinen eben ein solches ethisches Gewissen eindringlich verlangt. Dass die Technik noch keineswegs ein solches Niveau erreicht hat, wollen diese Gesprächspartner nicht wahrhaben. Von einer allwissenden Philosophin wurde ich bei einer solchen Diskussionsrunde bereits über Fahrzeug-Kantianismus belehrt. Deswegen veröffentlche ich meine Stellungnahme hier auf Telepolis, wo man auf der Suche nach Veritas Argumente in Ruhe am grünen Tisch ausbreiten kann.

Menschen und der ethische Zusammenbruch

Vorher muss man jedoch eine Legende demontieren, nämlich die, dass sich Menschen bei solchen Verkehrsszenarien bzw. Unfallsituationen ethisch verhalten. Das beste Beispiel dagegen sind in Not geratene Flugzeuge. Wie oft liest man, dass ein kleines Verkehrsflugzeug auf der Autobahn gelandet ist? Auf die Idee auf dem Acker bzw. Wasser zu landen kommen die wenigsten, da sie primär an die eigene Rettung und nicht an die bis dahin unbeteiligten Autofahrer denken. Folgende Beispiele mögen zeigen, wie Menschen sich in Extremsituationen verhalten:

  • Im Jahr 2014 sind ein Mann und seine Tochter am Strand von Florida von einem landenden Flugzeug getötet worden. Pilot und Flugzeugpassagier blieben unverletzt.
  • Erst im vergangenen April ist ein Flugzeug auf die Autobahn in Kalifornien gelandet. Eine Frau starb in ihrem Fahrzeug und drei weitere Personen, die nicht im Flugzeug saßen, wurden verletzt.
  • In Südafrika versuchte 2011 ein Flugzeug auf der Autobahn zu landen und erfasste dabei ein Auto. Nur die Insassen des Flugzeugs starben.
  • Im Jahr 1987 landete ein Cargoflugzeug mit 18 Pferden und 12 Personen auf der Autobahn zwischen Mexico City und Toluca zur Rushhour. Bis zu 39 Personen starben und eine Tankstelle, die vom landenden Flugzeug gestreift wurde, explodierte. Pilot und Copilot, beide US-Bürger, überlebten. Vier Häuser und 26 Autos gingen in Flammen auf.

Solche Beispiele veranschaulichen, was in einem anderem Kontext "ethischer Zusammenbruch" genannt wird. Es ist auch nicht so, dass die Piloten solcher Flugzeuge nur wenige Sekunden für ihre Entscheidung gehabt hätten. Meistens geschieht eine solche Landung im Gleitflug und es vergehen manchmal Minuten.

Es gibt auch das Problem von Menschen, die sich für einen Suizid entscheiden. Verkehrsmittel werden dann zur Waffe, die sie gegen sich selbst aber leider auch gegen Unbeteiligte einsetzen. Es gibt Fahrer, die ihren Selbstmord durch eine Frontalkollision mit anderen Fahrzeugen erzwingen wollten. Am tragischen Fall der German Wings Maschine, die in Frankreich 2015 verunglückt ist, erinnern sich wahrscheinlich noch die meisten Leser.

Man könnte natürlich sagen, dass es sich hier um psychisch instabile Personen handelt, für die ethische Grenzen des eigenen Handelns verwischt seien. Was kann man aber von Autofahrern sagen, die regelmäßig und ohne jegliche Not die maximale Geschwindigkeit bei weitem übertreffen? Im Jahr 2014 gab es im Straßenverkehr in Deutschland 45.000 Unfälle mit Personenschaden, die auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen waren. Hierzulande bleibt überhöhte Geschwindigkeit Unfallursache Nummer 1. Bis zu 27% der Toten im Straßenverkehr sind daher auf zu schnelles Fahren zurückzuführen. Wer kennt aber nicht jemanden, der sich per Navigationssystem über die Radarfallen in der Stadt informieren lässt, um so überall schneller als erlaubt fahren zu können? Haben Sie mit der Person je ein ethisches Gespräch geführt?

Und der ADAC! Als der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ein generelles Tempolimit für die Autobahnen vorschlug, bemühte der ADAC die europäische Statistik, um zu zeigen, dass man in Deutschland weniger riskant fährt. Sie vergleichen dann gerne Äpfel mit Birnen, wenn es im Sinne der freien Fahrt für freie Bürger sein muss. Auf die einfache Idee, das Rasen generell zu unterbinden und sozial zu ächten, weil dieses sich auf die Straßen in der Stadt überträgt, kommt der ADAC nicht.

Vor Jahren hat jemand vorgerechnet wie viele Stunden alle Fahrer in Deutschland verlieren würden, wenn es Geschwindigkeitsobergrenzen auf allen Autobahnen gäbe. Teilt man jene Zahl durch die Stunden eines Lebens, ergibt sich die Anzahl der "virtuellen Toten", die wir natürlich durch einen Verzicht auf das Tempolimit vermeiden wollen. Die Berechnung kommt mir genauso dubios vor, wie die von der Firma Philip Morris für die Tschechische Republik. Die Anwälte von Philip Morris haben nämlich berechnet, wie viel die Regierung für die Behandlung von Lungenkrebskranken ausgibt, aber auch wie viel sie andererseits durch frühere Todesfälle an Renten spart. Unter dem Strich ergab sich für die Staatskasse ein "Gewinn" aus dem Rauchen.

Wie die Beispiele mit den Flugzeugen zeigen, ist bei einer unvermeidlichen Unfallsituation die erste Reaktion vieler Menschen, zuallererst die eigene Haut zu retten. Selten, vielleicht nie, wird ein Fahrer den Abgrund am Rande einer Bergautobahn ansteuern, wenn er plötzlich eine Gruppe entgegenkommenden Fahrradfahrer sieht. Menschen sind, in den meisten Fällen, nicht so selbstlos gestrickt.

Passive und aktive Sicherheit

Bevor wir auf die wehrlose Oma mitten in der Spur zurückkommen, müssen wir einige Überlegungen zur Autosicherheit los werden.

Wie die Unfallstatistik zeigt, kann man durch Verringerung der Geschwindigkeit die Folgen eines Unfalls reduzieren. Die kinetische Energie, die ein Fahrzeug besitzt, ist proportional zum Produkt des Quadrats der Geschwindigkeit und der Masse. Da Fahrzeuge viel zu schnell fahren können, brauchen sie ein ausreichendes Polster für Kollisionen. Man könnte sie aber viel leichter bauen, wenn man Konzepte für Stadtfahrzeuge entwickeln wurde, die langsamer fahren.

Reduziert man die maximale Geschwindigkeit in der Stadt um 50%, reduziert man damit die Energie eines aufprallenden Fahrzeugs um 75%. Dazu kommt die Reduzierung der Masse des Vehikels, das dann keine so große Polsterung braucht. Solche Konzepte für Stadtfahrzeuge (people movers bzw. shuttles) werden gegenwärtig von Universitäten und kleinen Startups vorgeschlagen. Die sogenannte "passive Sicherheit" ist in solchen Vehikeln automatisch gegeben.

Würde man dann jedoch zu viel Zeit im Verkehr verlieren? Nicht in Mexico Stadt: Dort beträgt die mittlere Geschwindigkeit eines Fahrzeugs (in der Woche, während der Arbeitszeit) sage und schreibe 7 Km/h. In Berlin beträgt sie 24 Km/h, wobei sie in der Innenstadt viel niedriger ist.

Kann man also langsamer fahren und trotzdem schneller ankommen? Ja, durch die Verringerung der Anzahl von Fahrzeugen, die sich außerdem mit dem öffentlichen Verkehr koordinieren können, und durch "car sharing on demand", damit die Durchschnittsbelegung der Autos deutlich über die aktuellen 1,3 Insassen pro Fahrzeug steigen kann.

Hinter der Entwicklung von autonomen Fahrzeugen steht deswegen, zumindest für mich, eine doppelte Motivation: Erhöhung der Sicherheit des Fahrzeugs, das über rundum hochpräzise Sensorik den Verkehr besser als ein Mensch erfassen kann (aktive Sicherheit), und die Transformation des Automobils in fahrerlose Taxis, die von Passagieren gemeinsam benutzt werden können, statt die Autos 95% der Zeit am Straßenrand stehen zu lassen. Diese Utopie für die Stadt habe ich bereits einmal in Telepolis erläutert (Autopie: Autonome Fahrzeuge für Car-Sharing). Das ist die einzige vernünftige Lösung für eine Megalopolis wie Mexiko-Stadt, wo die in jedem Moment fahrenden Autos, Stoßstange an Stoßstange, 5.000 Autobahnkilometer füllen würden.

Zusammenfassend wäre die Vision für autonome Fahrzeuge folgende: Erstens, wir bräuchten in der Stadt viel weniger Autos, wenn diese gemeinschaftlich benutzte Taxis wären und sich optimal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln koordinieren könnten. Zweitens, wir können die Höchstgeschwindigkeit dann drastisch reduzieren, wodurch wir die Fahrzeuge automatisch sicherer machen könnten, da die Aufprallenergie deutlich zurückgehen würde. Trotzdem kämen wir alle schneller als heute ans Ziel, da der Verkehr wieder fließen würde.

Die vorhandenen Fahrzeuge könnten sich auch per Telekommunikation verständigen und eine "kollektive Fahrintelligenz" schaffen. Wenn ich außerdem im Fahrzeug lesen, mit dem Computer arbeiten oder sogar schlafen kann, dann ist die Zeit im Verkehr kein Problem. Die unproduktive Zeit des Selberfahrens verwandelt sich dann in Zeit für mich selbst.

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