Angriff auf den Hilfskonvoi: Russland unter Verdacht

Aus dem Weißen Haus kommen Vorwürfe, wonach man dort die russische Regierung für verantwortlich hält. Das russische Verteidigungsministerium richtet die Aufmerksamkeit auf ein Begleitfahrzeug oppositioneller Milizen

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Die Waffenruhe sei "in Gefahr, aber nicht zu Ende", wird der UN-Sonderbeauftragte de Mistura zitiert. Beim gestrigen Treffen der Internationalen Unterstützergruppe für Syrien (ISSG) in New York sei man sich über eine Fortsetzung der Bemühungen zur Waffenruhe einig gewesen.

Überschattet wird dies allerdings von einem Konflikt zwischen den beiden vorsitzenden Parteien der ISSG, den USA und Russland. Es geht um die Verantwortung für den Angriff auf den Hilfskonvoi bei Urum al-Kubra (Syrien: Der Angriff auf einen Hilfskonvoi und das Blame-Game).

Vorwürfe aus dem Weißen Haus

Aus dem Weißen Haus in Washington kamen gestern eindeutige Beschuldigungen Richtung Moskau. Nicht von Präsident Obama und nicht von Außenminister Kerry, sondern von Ben Rhodes, dem stellvertretenden nationalen Sicherheitsberater, Redenschreiber und Spezialisten für strategische Kommunikation. Rhodes macht Russland für den Angriff verantwortlich.

"Alle unsere Informationen weisen klar darauf hin, dass es sich um einen Luftangriff handelt", wird er von CNN zitiert. Daraus folge, dass nur zwei Verantwortliche infrage kämen, die syrische oder die russische Luftwaffe. In einem nächsten Schritt engte er die Suche nach dem Schuldigen ein, ohne dies weiter mit Gründen zu unterlegen - eine Fortsetzung der bekannten Rhetorik der Beschuldigungen, die eine eindeutige Beweislage suggerieren, aber nicht exakt belegen.

Wir halten die russische Regierung für Angriffe in diesem Luftraum für verantwortlich angesichts ihrer Verpflichtung, dass sie nach Regelungen der Waffenruhe keine Operationen in der Luft ausführen ("to ground air operations") sollen, wo humanitäre Hilfe unterwegs ist.

Ben Rhodes

Der CNN-Bericht spricht von einer "vorläufigen Folgerung", von der zwei Offizielle dem Sender gegenüber berichtet hätten. Einer wird mit den Worten zitiert: "Alle Nachweise, die wir haben, zeigen in diese Richtung."

Angesichts dessen, dass gestern vom Sprecher des Moskauer Verteidigungsministerium eindeutig bestritten, dass weder die syrische Luftwaffe noch die russische Angriffe auf den Konvoi geflogen habe, ist die Anschuldigung aus dem Weißen Haus mit dem Vorwurf der Lüge oder einer Täuschungsabsicht gleichzusetzen.

Da dies kein geringer Vorwurf ist und er öffentlich geäußert wird, müsste er mit den angedeuteten Nachweisen unterlegt werden, um aus der "vorläufigen Folgerung" mehr zu machen als den nächsten Akt des Blame-Game.

Laut Informationen des Wall Street Journal habe die amerikanische Aufklärung die Flugbewegung zweier russischer SU-24-Kampfflugzeuge verfolgt. Sie sollen sich direkt zu dem Ort bewegt haben, wo der Konvoi angegriffen wurde.

Ob man auch Bild-Material vom Angriff selbst hat, bleibt offen. Die Überschrift des Artikels ist so formuliert, dass sie keine belastbare Aussage trifft. Es heißt dort, dass die USA davon "überzeugt sind, dass Russland den syrischen Hilfskonvoi bombardiert" habe. In der Dachzeile ist die Rede davon, dass neues Aufklärungsmaterial ("intelligence") darauf verweise, dass russische Militärs den Angriff ausgeführt haben.

Für die Öffentlichkeit, die ihr Wissen über den Angriff nur aus Medien beziehen kann, ist das schwierig - letztlich nur Sache der Überzeugung?

Eine Falle der dschihadistischen Milizen?

Von russischer Seite kommt einmal die deutliche Aussage "Wir waren es nicht", zum anderen der Verweis auf den größeren Kontext, auf intensive Kampfhandlungen in diesem Gebiet. Dazu werden Aufklärungsbilder einer Drohne geliefert, übermittelt von RT, die ein Begleitfahrzeug zum Konvoi zeigen, ein Pick-up mit Anhänger, auf dem ein Geschütz geladen ist.

Bild: Russisches Verteidigungsministerium

Nach offizieller russischer Darstellung, handelt es sich dabei um ein Fahrzeug der bewaffneten Opposition ("Terroristen") . Dass es in Urum al-Kubra und Umgebung oppositionelle Milizen gibt, bestreitet zur Stunde niemand. Nach Auffassung des russischen Verteidigungsministeriums stellt sich die Lage so dar, dass die Oppositionsmilizen das Gebiet kontrollieren.

Oppositionsvertreter hatten zuvor eindeutig erklärt, dass sie gegen die Regelungen der Waffenruhe sind und Hilfslieferungen ablehnen. Sie fordern eine Aufhebung der "Belagerung". Das, so kann man spekulieren, liefert Motive, um Hilfslieferungen zu sabotieren. Es müsste also eindeutig geklärt werden, ob der Angriff auf den Konvoi aus der Luft kam oder von anderer Seite.

Russisches Verteidigungsministerium: "Wohin hat das Geschütz gefeuert?"

Die Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums konzentriert sich auf die Rolle des Begleitfahrzeugs mit der Artillerie: Es sei nicht klar, wer hier wem Schutzgeleit gebe, so der Sprecher Igor Konaschenkow, das Fahrzeug mit dem Geschütz dem Konvoi oder der Konvoi dem Geschütz?

Die wichtigste Frage sei, wohin dieses Fahrzeug mit dem Geschütz verschwunden ist, als der Konvoi sein Ziel erreicht habe und worauf dieses Fahrzeug sein Feuer gerichtet habe, als der Konvoi abgeladen wurde.

Diese Darstellung deutet die Möglichkeit an, dass das Fahrzeug mit dem Geschütz beschossen wurde - als Reaktion auf dessen Feuer, möglicherweise aus der Luft… Infrage kämen dafür russische Flugzeuge. Die Behauptung "No airstrikes on the UN humanitarian convoy" wäre damit formell richtig. Faktisch aber wäre nicht ausgeschlossen, dass bei einem Angriff auf das Geschütz auch Lastwagen des Konvois getroffen wurden.

Laut Berichten vom Ort des Geschehens sollen die Angriffe länger gedauert haben, wie das auch der Zeuge von den White Helmets schildert. Daraus wäre zu schließen, dass es sich nicht um einen gezielten Angriff auf den Konvoi handelte, sondern um einen tragischen "Kollateralschaden" beim Kampf gegen die Terroristen/Oppositionellen. Das würde bedeuten, dass dem russischen Militär der Abschuss von Oppositionellen wichtiger war als der Schutz des Konvois.

Damit würde eine rote Linie überschritten, wie auch ein Beobachter der Situation in Syrien anmerkt, der nicht als "Russen-Basher" eingereiht werden kann.

Es sind noch viele Fragen offen - die auch die Oppositionsmilizen und ihre Unterstützermächte zu beantworten haben.

Ergänzung

Die Aussage des russischen Außenministers Lawrow ist eindeutig. Tass gegenüber bestätigte er, dass die russische Luftwaffe nicht in dem Gebiet operiert habe: "Our aviation did not work there.". Auch die syrische Luftwaffe könne es nicht gewesen sein, da sie nicht um diese Zeit fliege. Sie habe dazu nicht die Möglichkeiten. Der Angriff sei in dem Moment erfolgt, als die humanitären Hilfsgüter abgeladen wurden. Da war es Nacht, im Dunkeln würde die syrische Luftwaffe nicht operieren.

Das UN-Büro für humanitäre Hilfe OCHA hatte gestern seinen ursprünglichen Bericht zum Vorfall dahingehend verändert, dass der Begriff "Luftangriffe" durch "Angriffe" ersetzt wurde. Sprecher Jens Laerke teilte mit, dass die UN nicht in der Position sei, um zu statuieren, dass es sich um Luftangriffe handelte.