Soziologie als "Kampfsport"

Der Soziologe Stephan Lessenich über Charles Wright Mills und die "Soziologische Phantasie"

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Eine Wissenschaft, die nur zum ihren Selbstwillen praktiziert wird und nicht bereit ist, sich mit den konkreten Problemen der Menschen ernsthaft auseinanderzusetzen, war dem US-amerikanischen Machtstrukturforscher Charles Wright Mills ein Dorn im Auge (Journalismus: Scheuklappenrealismus über Ländergrenzen hinweg). Er war einer jener Wissenschaftler, die ähnlich dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu (Staatskritik, symbolische Macht und Herrschaftsverhältnisse), die Soziologie als eine Art Kampfsport betrachtet und betrieben hat. Beide haben mit den "Waffen" der Soziologie interveniert und gesellschaftliche Missstände freigelegt und kritisiert. Im Telepolis-Interview geht Stephan Lessenich vom Institut für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München auf eines der Hauptwerke von Mills ein, das nun wieder auf dem deutschen Markt in neuer Übersetzung erhältlich ist.

Das Buch mit dem Titel "Soziologische Phantasie", das der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills 1959 veröffentlichte, kann man als einen Rundumschlag betrachten. Ohne Zurückhaltung setzt sich Mills, der durch seine Theorie der Machtelite bekannt wurde, mit seiner Disziplin kritisch auseinander. Mills wagt mit seinen "soziologischen Phantasien" einen Angriff nach "innen", auf sein eigenes Fach. Er nimmt sich sowohl die Theoretiker wie auch die Empiriker seiner Zeit vor und entlarvt Zug um Zug eine Gesellschaftswissenschaft, die, obwohl sie die gesellschaftlichen Verwerfungen so nah vor Augen hat, doch immer wieder auch an ihnen - aus oft fragwürdigen Gründen - vorbei schaut.

Mit "Sociological Imagination" , wie der Titel im Original heißt, hat Mills ein Buch, das für alle Sozialwissenschaftler, die sich vor einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Disziplin nicht scheuen, ein Muss ist - auch wenn es bereits über ein halbes Jahrhundert alt ist.

Obwohl Mills, wie er in "The Power Elite" gezeigt hat, soziologische Texte geradezu mit schriftstellerischer Qualität verfassen konnte, kann einem "Soziologische Phantasie" bisweilen etwas trocken vorkommen. Doch die Lektüre lohnt. Immer wieder lassen sich auch für diejenigen, die nicht in den Gesellschaftswissenschaften beheimatet sind, aber mit einem kritischen politischen Auge durch die Welt gehen, darin "Gedankenperlen" finden. Alleine schon die Begriffe, mit denen Mills ohne Umschweife benennt, was er wahrnimmt, haben ihren Reiz und lassen erahnen, was den Leser des Buches erwartet. Geradeaus spricht Mills etwa von einer "professionellen Unfähigkeit", die bei den Angehörigen bestimmter Berufsgruppen anzutreffen sei. Er spricht von "Begriffsklempnern", "Gutwettermoralisten" oder von "munteren Idioten", eine Rolle, die bisweilen Sozialwissenschaftlern zugesprochen werde, da man zu oft von ihnen erwarte, dass am Ende ihrer Forschung gefälligst ein positiver Ausblick zu stehen habe.

Das "konstruktive Programm" oder dem "hoffnungsvollen Ton" in den Vordergrund zu schieben, ist für Mills "oft ein Zeichen für die Unfähigkeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken, auch wenn sie ausgesprochen unerfreulich sind". Aussagen wie diese sind es, die mit dazu beitragen, dass Mills' Werk bis in die Gegenwart reicht.

Das Buch "Soziologische Phantasie", das Charles Wright Mills vor über 57 Jahren verfasst hat, ist eine ziemlich schonungslose Auseinandersetzung mit seiner Disziplin. Nun haben Sie es zusammen mit Rahel Jaeggi und Hans-Peter Müller neu herausgegeben. Was hat Sie dazu gebracht?

Stephan Lessenich: Ich hatte das Buch schon einmal während meines Studiums in den 1980er Jahren in der Hand, es aber dann eigentlich erst wieder Anfang 2009 entdeckt, als ich gemeinsam mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa an dem Schlusskapitel unseres gemeinsamen Buches "Soziologie - Kapitalismus - Kritik" saß. Da feierte es gerade 50. Geburtstag - und ich war verblüfft, wie aktuell viele seiner Diagnosen waren, als gesellschaftliche Zeitdiagnosen wie auch als Diagnosen des Zustands der Soziologie oder allgemeiner der Sozialwissenschaften.

Allerdings fiel mir dabei auch auf, wie schwer und manchmal auch seltsam sich die deutsche Fassung von "The Sociological Imagination", die 1963 bei Luchterhand erschienen war, las. Ich griff daher zum amerikanischen Original und entschied, mich bei erstbester Gelegenheit für eine Neuübersetzung einzusetzen - was im Rahmen unserer Reihe "Edition Theorie und Kritik" bei Springer VS nun erfreulicherweise geklappt hat. Der Band enthält übrigens auch ein Nachwort des Göttinger Kollegen Oliver Römer, der die an sich sehr interessante Geschichte der deutschen Erstübersetzung rekonstruiert hat.

Dann ähnelt Soziologische Phantasie einem anderen Werk von "Mills: The Power Elite" bzw. auf Deutsch: "Die US-amerikanische Machtelite". Auch dieses weist in der deutschen Übersetzung so seine Probleme auf, aber, und das ist nun zentral: Auch Mills‘ The Power Elite ist auch heute noch, also 60 Jahre nach seiner Veröffentlichung in weiten Teilen aktuell. Zunächst einmal ganz allgemein die Frage: Wie gelingt es einem Soziologen, eine Arbeit auf die Beine zu stellen, die so weitreichend ist, dass sie auch über ein halbes Jahrhundert später für die Gegenwartsproblematik von Relevanz ist? Oder, anders gefragt: Was wissen Sie über Mills? Was für ein Mensch war er?

Mills war ein Verrückter

Stephan Lessenich: Nun, das sind ja gleich mehrere Fragen. Was Mills' Persönlichkeit angeht, so muss man wohl sagen, dass er ein Verrückter war: verrückt nach der Soziologie, verrückt nach Erkenntnis, Einsicht und Aufklärung, aber darin auch arbeitswütig ohne Grenzen und ohne Rücksicht auf Verluste, auch was seine eigene Gesundheit anging. Nicht umsonst ist er keine 50 geworden.

Er ist bereits im Alter von 45 an einem Herzinfarkt gestorben.

Stephan Lessenich: Ja. Man muss sich ihn jedenfalls wohl als jemanden vorstellen, der voll und ganz für die Wissenschaft lebte - bzw. für eine bestimmte Weise, Sozialwissenschaft zu betreiben. An "Soziologische Phantasie" soll er über einige Monate hinweg wie im Rausch, Tag und Nacht, geschrieben haben. Aber Arbeitswut und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst machen natürlich noch keinen guten Soziologen aus. Mills gelang es tatsächlich, Strukturmerkmale der Gesellschaft seiner Zeit zu sehen und kenntlich zu machen, z.B. ihre politischen Herrschaftsverhältnisse oder die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit, die sich auch heute noch erkennen lassen, die nach wie vor wirksam sind und die Lebensschicksale der Menschen bestimmen. Allerdings gehören zu guter Gesellschaftsdiagnose auch immer zwei: der oder die Diagnostiker/in und die Gesellschaft.

Was meinen Sie damit?

Stephan Lessenich: In gewisser Weise kam Mills auch die gesellschaftliche Zeit zugute, in der er schrieb: am Ausgang des Zweiten Weltkrieges, zu Beginn von Jahrzehnten relativer weltgesellschaftlicher Stabilität - was zur fortdauernden Gültigkeit seiner Beobachtungen beigetragen hat. Und dennoch: Danach kamen noch die Implosion des Staatssozialismus, die kapitalistische Globalisierung und 9/11 - trotz all dieser gesellschaftlichen Umbrüche haben seine Arbeiten in gewisser Hinsicht etwas Zeitloses.

Mills zielt in Soziologische Phantasie vor allem auf die Großtheorien in der Soziologie, aber auch den abstrakten Empirismus. Damit dürften viele, die nicht aus der Gesellschaftswissenschaft kommen, kaum etwas anfangen können. Klären Sie uns doch bitte mal auf: Was sind "Großtheorien" in der Soziologie? Und warum kritisiert Mills diese so klar?

Stephan Lessenich: Die - will heißen: DIE - soziologische Großtheorie zu Mills' Zeiten war der sogenannte Strukturfunktionalismus, für den als Großtheoretiker der US-Soziologe Talcott Parsons stand. Diese Theorie hatte den Anspruch, Struktur und Dynamik der modernen Gesellschaft umfassend und gewissermaßen universell erklären zu können. Ihre Grundannahmen bestanden darin, dass Gesellschaften Systeme sind, die sich ihrer Umwelt anpassen müssen - bei Strafe ihres Untergangs, wenn ihnen dies nicht gelingt.

Im historischen Entwicklungsprozess setzen sich also diejenigen Gesellschaften durch, die besonders anpassungsfähige - und in diesem Sinne "funktionale" - Strukturen entwickeln: Strukturen der Organisation des Wirtschaftens, der Ermöglichung und Begrenzung sozialer Ungleichheit, der Durchsetzung politischer Entscheidungen. Parsons entwickelte ein gigantisches, komplexes Theoriegebäude, das für sich in Anspruch nahm, letztlich "alle" gesellschaftlichen Phänomene kategorisieren und erklären zu können. Und die übrigens auch offenkundige politische Implikationen hatte: Was Parsons bei der Formulierung seiner Theorie "der" modernen Gesellschaft vor Augen stand, war das US-amerikanische Gesellschaftsmodell, das damit auf eine Weise auch zum Vorbild gesellschaftlicher Funktionalität wurde: Was dort real war, galt - überspitzt gesagt - auch als gut. Und als Entwicklungsmodell für alle noch nicht "modernen" Gesellschaften, in der (damaligen) Zweiten wie Dritten Welt.

Mills' Kritik an Parsons ist geradezu vernichtend. Und sie betrifft nicht nur den Anspruch, eine allgemeine - und damit letztlich auch überhistorische - Theorie der Gesellschaft zu entwickeln. Sondern auch die Abgehobenheit der Parsonschen Theoriesprache. Also nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Denkens - was bei Parsons eng beieinander lag.

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