Türkei: Angriffe gegen Kurden in Nordsyrien

Bild: Operation Euphrates Shield

Von kurdischer Seite gibt es erneut Vorwürfe über enge Verbindungen zwischen dem IS und von der Türkei unterstützten FSA-Einheiten

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Die türkische Luftwaffe flog in den letzten Tagen 18 Angriffe auf Stellungen der von kurdischen Einheiten angeführten SDF in den frisch vom IS eroberten Dörfern westlich der IS-Hochburg Al Bab. Die kurdische Nachrichtenagentur ANF berichtet auch von schweren Artillerie- und Raketenangriffen der türkischen Armee in der Region.

150 Boden-Boden-Raketen sollen nach der SDF auf nordsyrische Dörfer abgefeuert worden sein. Die syrische Armee drohte angesichts dieser Angriffe der Türkei, türkische Kampfflugzeuge abzuschießen, sollten sie weiterhin den syrischen Luftraum verletzen.

Die regierungsnahe türkische Nachrichtenagentur Anadolu sprach von 200 getöteten Mitgliedern der YPG durch die Luftangriffe des türkischen Militärs auf syrischem Territorium. ANF hingegen berief sich auf ein Mitglied des SDF-Militärrates der Stadt Al Bab, Mihemed Abdulrezak. Seinen Angaben zufolge seien bei den Angriffen vier Zivilisten und zehn Kämpfer der - zu den SDF gehörenden - Jaysh al-Thuwar (Armee der Revolutionäre) getötet worden. Auch die den SDF mit Sicherheit nicht nahestehende syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bestätigt nur 11 Tote in den Reihen der SDF.

Die Koordinierungsstellen der Kantone Cizire, Kobane und Afrin interpretieren die Angriffe als Reaktion auf die Befreiung der Dörfer vom IS. SDF-Sprecher Silo sieht darin, Vorwürfe bestätigt, dass der türkische Staat Verteidiger der terroristischen Organisation IS und anderer nahestehender Terrorgruppen und Personen ist. Mit den Angriffen möchte die Türkei auch verhindern, dass die SDF, die für die Türkei und ihre Verbündeten islamistischen Milizen strategisch wichtige Stadt Al Bab vor ihren eigenen Bodentruppen und islamistischen Milizen einnehmen.

Die Entwicklungen bei Al Bab

Al Bab ist das Bindeglied zwischen den Rojava-Kantonen Afrin und Kobane. Die SDF (Syrische Demokratische Kräfte) stehen schon 20 km vor der Stadt und lieferten sich in den vergangenen Tagen heftige Kämpfe mit den islamistischen Milizen aus der Türkei. SDF-Sprecher Talal Ali Silo erklärte, dass die Türkei die Vereinigung von den Kantonen Afrîn und Kobanê um jeden Preis zu verhindern suche.

Zudem wolle sie die Kurden nördlich von Aleppo vertreiben und damit die Demographie zugunsten der Islamisten verändern. Silo sagte, dass sich die SDF eigentlich auf die Raqqa- und Deir-az-Zor-Operationen gegen den IS vorbereiten. Aber die Entwicklungen um Al Bab könnten ihre Prioritäten ändern, wenn der zu den SDF gehörende Militärrat von Al Bab militärische und logistische Unterstützung benötige.

Gegenwärtig rücken die SDF von Westen und Osten auf Al Bab vor, die syrische Armee von Süden und die von der Türkei unterstützten islamistischen Truppen von Norden. Zwischen den Beteiligten gibt es einen Wettlauf, wer zuerst Al Bab erreicht. Sollte dies die Türkei mit ihren Islamisten im Schlepptau sein, ist anzunehmen, dass die IS-Kämpfer sich wie in Jarablus in die Reihen der Türkei-Truppen einreihen und Al Bab kampflos übergeben.

Sollten dies die SDF sein, müsste die Türkei mit größeren Militäreinheiten aus der Türkei über Jarablus einmarschieren, um die SDF an der Eroberung der Stadt zu hindern. Dies könnte zu Problemen mit Russland führen, das trotz angeblicher Absprachen mit Erdogan die Türkei nicht zu tief in Syrien haben will.

Internationale Proteste bleiben aus

So wie die USA und die Internationale Koalition beim Einmarsch der türkischen Truppen und den anschließenden Angriffen auf Stellungen der SDF geschwiegen hatten (Kampflose Eroberung von Dscharablus: Wer an der türkischen Offensive auf Dscharablus beteiligt war), so still ist es auch bis heute über die Bombardierungen der SDF-Stellungen bei Afrin und dem erneuten Beschuss des Kantons Afrin mit türkischen Raketen. Russlands Außenminister Lawrow äußerte sich zwar besorgt, Konsequenzen haben diese Sorgen bisher allerdings nicht.

Die USA verkünden, nichts von Luftangriffen zu wissen - und die Bundesregierung? Schweigt. Böse denkt, wer fragt, ob eventuell das türkische Militär die Angriffs-Koordinaten von deutschen Aufklärungsfliegern erhielt. Schließlich liefern die deutschen Tornados doch genaue Fotos von der Region, - natürlich nur, um die IS-Stellungen zu identifizieren. "Im Deutschlandfunk sagte Jan van Aken: "um einen Missbrauch zu verhindern, lasse die Bundesregierung jedes Foto mit dem Hinweis 'nur für den Kampf gegen IS' beschriften und vertraue einfach darauf, dass sich die Türkei auch daran halte" (Incirlik: Geschenke der Bundesregierung an Erdogan).

Incirlik: Türkei ignoriert Anfrage

Der Linken-Politiker wollte sich nun selbst ein Bild vor Ort auf dem Nato-Stützpunkt Incirlik machen. Mitte Oktober informierte er das Auswärtige Amt über sein Vorhaben. Die Türkei lehnte zwar nicht offiziell ab, ignoriert aber bis heute die Anfrage. Van Aken forderte, dass ein erneutes Besuchsverbot zur Folge haben müsse, dass der Bundestag die im November anstehende Mandatsverlängerung für den Einsatz in Incirlik verweigere.

Wegen der im Juni im Bundestag verabschiedeten Armenier-Resolution hatte die Türkei den Bundestagsabgeordneten monatelang einen Besuch auf der Airbase verweigert. Es mehren sich zudem kritische Stimmen die fordern, dass, angesichts der Unberechenbarkeit von Erdogan, die USA schnellstens ihre Atomwaffen von Incirlik abziehen solle. Auch treten in den sozialen Netzwerken Fragen nach der Beteiligung der Türkei an der Anti-IS-Koalition auf.

Gezielte türkische Angriffe

Schließlich würde gerade in Nordsyrien immer offensichtlicher, dass das Hauptziel der Türkei die Vertreibung der Kurden und die Zerschlagung Rojavas sei, während der IS verschont, vorgewarnt oder IS-Kämpfer in die eigenen Reihen integriert würden. Der außenpolitische Sprecher CDU/CSU Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, brachte in schon fast komisch anmutender Art und Weise seine Unkenntnis über die Geografie der Region und die dortigen politischen Verhältnisse zum Ausdruck und kolportiert die türkische Haltung.

Nachgefragt, was er denn zu den angeblich 200 in Nordsyrien durch türkisches Bombardement getöteten YPG Kämpfern sage, erklärte er am 21.10., dass die Türkei sicher gute Gründe habe, den "von Kurden mitgetragenen" Terrorismus "im Nordirak äh… Nordsyrien" zu bekämpfen, der "genauso verantwortlich für die schreckliche Lage in Syrien ist, wie die anderen Dinge auch".

Auffällig ist, dass die Angriffe der Türkei vor allem auf Dörfer in der Umgebung von Afrin gezielt haben. Dabei ging es vor allem um Gebiete, die frisch aus der Hand des IS befreit worden waren. Getroffen wurde dabei weniger die YPG, als vielmehr die "Revolutionären Kräfte", die in der Bevölkerung der Region tief verwurzelt sind und gemeinsam mit den SDF vorgehen.

Möglicherweise steht dahinter das Kalkül, regionale Widerstandsgruppen gegen die YPG aufzubringen. Dies scheint allerdings nicht aufzugehen. In einer Erklärung vom 22.10. betonen die Einheiten der "Revolutionären Kräfte", in denen vor allem regionale Gruppen, wie die Räte von Al Bab, die Frauenverteidigungseinheiten von Shehba, Jaish al Siwar, Stammeskräfte um Aleppo, die Demokratische Brigade des Nordens und Jabhat al Akrad organisiert sind, dass sie nun in eine "Offensivhaltung gegenüber der Türkei und mit ihr verbündeter Gruppen" gehen würden.