Ruhende Verbrauchermacht

Stuttgart 21. Bild: Martin Storz

Verbraucher können die Welt verändern. Wenn sie dazu befähigt werden. Das will aber niemand

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Natürlich könnten Verbraucher ihre geballte Nachfragemacht einsetzen und dabei "die Märkte" radikal umpflügen, genauso wie sie als (heute meist überdrüssige) Bürger eine weniger lemurenhafte Politik erzwingen könnten. Sie sind nicht in der Lage dazu, denn es fehlt an Freizeit, an Grundbildung und an Selbstvertrauen. Und die Eliten lassen es auch dabei, denn wer Macht hat, will kein Stückchen davon abgeben.

Bild: Karl Kollmann

Die guten Verbraucher…

Oft werden heute Verbraucher (von NGOs, der großen Tagespolitik, aber auch von ernsthaften Wissenschaftern1) aufgefordert, doch ein bisschen Verantwortung für mehr Nachhaltigkeit, letztlich für die Korrektur der seit Jahrzehnten verhunzten Weltklima-Entwicklung2, zu übernehmen und bei ihrem Konsum auch an die Enkelgeneration zu denken. Unternehmen werden das von sich aus, wenn sie weder eine veränderte Konsumenten-Nachfrage noch die Politik dazu zwingen, wohl nicht tun, denn die wollen ja Gewinne machen. Zwar gibt es in den letzten Jahren einen heftigen CSR (Corporate Social Responsibility)-Lärm, der ist jedoch nur ein neu gewandetes Marketing.

Verbraucher sollen also nach dieser verbreiteten Auffassung die Guten sein bzw. werden und Gesellschaft wie Wirtschaft "besser" machen. Aber können die das? Natürlich könnten Verbraucher die Wirtschaftswelt umfassend verändern - aber nur wenn man sie dazu befähigt. Dafür ist allerdings eine Reihe von Voraussetzungen notwendig.

Erster Befähigungsschritt

Heute wird gerne zwischen den Bürgern, die alle vier, fünf Jahre einer zur Wahl stehenden Partei ihre Stimme geben und sonst brav ihre Steuern entrichten, sowie den Verbrauchern, die auf den vielen Märkten ihre Wahlen treffen, also ihre tausenden und tausenden Kaufentscheidungen treffen oder sich dazu verführen lassen, unterschieden.

Rührige Verbraucher sind nach dem Geschmack der Politik - und für die weniger umtriebigen Konsumenten gibt es, wenn es Not tut, Verbraucherschutzmaßnahmen. Rührige Bürger sind allerdings gar nicht nach dem Geschmack der Politik, das hat man in Hamburg (Kommunalisierung der Energienetze), Frankfurt (Flughafen), Stuttgart (Bahnhof), und bei vielen anderen Gelegenheiten gesehen.

Dabei ist es notwendig, wenn man aktive Verbraucher haben will, die Rolle von Verbrauchern und Bürgern gemeinsam zu sehen: nur ein "Bürger-Verbraucher" wird und kann seine Lebenswelt gestalten, wenn er/sie begreift, dass es möglich ist, sich mit gängelnder Wirtschaft und verwaltender Politik distanziert, kritisch und fordernd auseinander zu setzen. Unbequeme Fragen stellen, Anderes wollen, ein Leben jenseits der schimmernden Markenwelt und der Glücksversprechungen (bis hin zum "Schrei vor Glück" ) der Konsumgesellschaft sehen können. Aber aktive Verbraucher gibt's nur als Doppelpack mit aktiven Bürgern.

"Bürger-Verbraucher" - Bildung

Um aktive Menschen zu haben, muss man sie zur Gestaltung befähigen, "Empowerment" heißt das auf angloamerikanisch. Sie in die Lage versetzen, ihre kleine und die große Welt zu gestalten, und das muß schon in der Schule beginnen: Mündigkeit als erstes Bildungsziel, nicht ein paar PISA-Punkte mehr in Mathematik. Eine Wiederholung der Aufklärung - die Alternative zu: "Es ist so bequem, unmündig zu sein."3 Fragt sich halt, ob es die gegenwärtige Politik mit quirligen, selbstbewussten Menschen überhaupt zu tun haben will.

Denn alles, was es da an Demokratisierungsbestrebungen gibt, scheint der Tagespolitik höchst suspekt. Sie will bloß eine Konsumdemokratie: Alle paar Jahre aus der vorgegebenen Auswahl wählen dürfen, einen "Wählermarkt". Überhaupt gibt es genug Barrieren gegen neue Parteien und die bereits vorhandenen wollen keine partizipativen Formen nach Schweizer Modell. Klar, das wäre ja eine Machtkürzung der Eliten.

Zutrittsbeschränkungen

Marktzutrittsbeschränkungen gegenüber neuen Akteuren gibt es heute in den meisten Wirtschaftsbereichen, da es muß jemand schon viel Geld in die Hand nehmen können, um als neuer Anbieter mitspielen zu dürfen.

In der Parteiendemokratie ist es nicht anders. Eine neue Partei in unseren Demokratien zu etablieren, ist heute sehr aufwendig. Die deutsche AfD hatte bei den letzten Wahlen keinen Milliardär im Hintergrund und hat es folglich nicht auf die Bühne geschafft. Die zwei neuen Parteien, die es in Österreich geschafft haben (Neos, Team Stronach), hatten jeweils ihren Milliardär mit Anschubfinanzierung dabei.

Zweiter Befähigungsschritt

Ein mitbestimmungswilliger "Bürger-Verbraucher" benötigt außerdem genügend Zeit für Mitgestaltung, er/sie muss darüber hinaus angstfrei leben können, ohne von Armut, Arbeitsplatzverlust oder Benachteiligung bedroht zu sein. Nächste Grundvoraussetzungen daher: Arbeitszeitverkürzung, dann Entlastung vom medialen und sozialen Konsumdruck, von den 5.000 täglichen Werbebotschaften (knapp 2 Millionen im Jahr)4, die die Politik seit ein paar Jahren auch in die Schule eingeschleust hat (Foodwatch: Kultusminister wollen "McSchule" ). Die Unternehmen sind ja gerade dabei, die Schulen5 und die Universitäten zu übernehmen.

Dritter Befähigungsschritt

Wenn die Politik es dann noch den Verbrauchern leichter macht, eine nachhaltige, umweltschonende Auswahl treffen zu können oder auf diesen und jenen Kauf zu verzichten, dann lässt es sich auch als Verbraucher mit einer nachhaltigen Konsum-Moral leben.

Was heißt das jetzt? Es müsste etwa klare Kennzeichnungsformen für "saubere" Unternehmen geben. Eine Kennzeichnung für Hersteller, die nachvollziehbare Schritte in mehr Arbeitnehmerqualität, mehr Verbraucherfreundlichkeit und intensiveren Umweltschutz setzen.

Soziale und ökologische Verträglichkeit hat mehrere Dimensionen, muß aber für einen Verbraucher einfach und klar kenntlich sein. Der erste Schritt könnte ein Gütezeichen, der zweite Schritt eine farbige Kennzeichnung a la "Ampel" oder wie auch immer, sein. Allerdings sind die Verbraucherschützer damit schon bei der Lebensmittelgesundheit schmählich gegen die nahezu allmächtige Industrie gescheitert.

Ampel für Lebensmittel. Bild: vzbv

Möglichkeitsform

Da die Welt nicht über Nacht, durch eine glückliche Fügung und von alleine besser wird, bedarf es wohl eines gesellschaftspolitischen Akteurs, also einer Organisation, welche die Ziele einer Bürger-Verbraucher-Befähigung ernsthaft betreibt.

Welche Organisationen könnten diese erwähnten Ziele: eine andere, nämlich eine politische, aufklärende Bildung, echte Arbeitszeitverkürzung, intelligente Umverteilung (geringe Steuern für schwache und höhere für starke Einkommensbezieher) realistisch verfolgen? Welche hätte dazu noch das Selbstbewusstsein, sich mit dem überall vorhandenen und quasireligiösen Wachstumsdogma auseinander zu setzen und auch mit Suffizienz zurecht zu kommen?

Suffizienz, das ist jenes berüchtigte "Verzicht"-Wort, an das kaum jemand anstreifen will. Allein wenn man an die 3 Milliarden Flugreisen im Jahr 2013 , so wird es wohl nicht weitergehen können. Das Raumschiff Erde ist zu klein für den Wachstumswahn.

Keine brauchbaren, verlässlichen Akteure

Tatsächlich, ein solcher Akteur ist heute nicht in Sicht.6 Die rosaroten Parteien sind viel zu sehr im kapitalistischen und politischen Pragmatismus verfangen, um eine längerfristige Perspektive jenseits des Hier und Jetzt zu sehen. Die Grünen leiden nach wie vor unter der Zwangsvorstellung, genügend Realitätssinn zeigen zu müssen, um im politischen und medialen Spiel von den anderen Machtträgern ernst genommen zu werden. Und die Gewerkschaften - ohnedies seit Jahrzehnten konservativ bis in die Knochen - haben schon seit den achtziger Jahren langfristige Ziele vergessen (Motto: Wir wollen als verständig wahrgenommen werden, Arbeitszeitverkürzungen für die Mitglieder sind dann später einmal dran), während die NGOs sich den Eliten und ökonomischen Mächten wie gehabt Realitätssinn gerecht anbiedern.7

Eine letzte kleine Chance bleibt jedoch: Widerspenstige Bürger können politische Akteure in andere, in sinnvollere, in intelligente Richtungen drängen. Wahrscheinlich müsste das heute, bei diesen sehr halsstarrig gewordenen Organisationen, welche uns verwalten, ein Hinschubsen, mehr oder weniger ein Hinprügeln sein. Der Marsch durch die Institutionen hat in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts immerhin ein Stück lang funktioniert. So ein Druck-Ausüben funktioniert jedoch nur in der realen Welt, nicht in den Online-Foren, die bleiben eine hübsche Nebenwelt.