Wenn bestimmte Stadtbewohner unsichtbar werden

Demonstration "Wem gehört die Stadt?" am 28.September in Berlin. Bild: B. v. Criegern

Stadtumstrukturierung in den Großstädten bringt zunehmend die Verdrängung Armer und Großprojekte bis hin zur "Deurbanisierung"

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Dass Wohnraum in den Innenstädten knapp wird, hatten die großen Parteien bei ihrem letzten Wahlkampf zum Thema gemacht. Natürlich zählte dabei stark der Image-Faktor. Wie viel etwa aus dem SPD-Programm bezüglich Wohnpolitik umgesetzt oder bald verrauchen wird, bleibt offen. Nachdem aber der Kahlschlag mit Privatisierungen passiert ist, darf man sich nur auf kosmetische Veränderungen einstellen.

Bei Wohnungsnot besonders für die Erwerbsarmen und Erwerbslosen ist auffällig, dass es um eine Not geht, die sich nicht auf nationale oder urbane Eigenheiten beschränkt, sondern offenbar mit globalen Vermarktungstendenzen zu tun hat: Die Not spanischer Einwohner unter Hypothekenlasten zeigte das ebenso wie die Proteste für Wohnraum bei Occupy in Tel Aviv vor zwei Jahren und auf dem Taksim-Platz in Istanbul dieses Jahr. In Istanbul wird eine brutale Verdrängung von Armen aus der Innenstadt zentralisiert von der AKP-Regierung betrieben und von keinerlei sozialen Maßnahmen begleitet. Hier geht es um staatliche Politik für Profitgeschäfte bei Bauprojekten.

In Berlin wurde liberale Stadtumstrukturierung betrieben: Seit den 1990er Jahren verkauften Stadtregierungen öffentliche Liegenschaften und Wohnungen an Investoren. Die Stadt im Zeichen des globalen Wettbewerbs und der Spekulationsgeschäfte hat sich deutlich gewandelt. Aber seitens der CDU und SPD will man nicht zu den Folgen der Vermarktung bekennen. In den Stellungnahmen im Wahlkampf wurden Bevölkerungsentwicklung und einige "Versäumnisse" als Grund genannt. Man spricht auch gerne von der Attraktivität Berlins für Zuwanderer.

Wenn Möglichkeiten für Stadteinwohnerschaft beschränkt werden

Manche Prozesse tragen die Züge einer "Deurbanisierung". In dem Essay aus diesem Jahr: "Does the city have speech?" verwendet die Soziologin Saskia Sassen den Begriff "deurbanizing" für einen Prozess bei zeitgenössischen globalen Tendenzen von Stadtstrukturierungen. Zugleich erforscht sie das Verhältnis von Subjekt und Politik, Stadtbürger/in ("citizen") und Regierungstechniken. Sassen macht deutlich, dass urbanes Potential zwar immer ein umkämpftes Feld war.

Die Rolle der Stadteinwohnerschaft gegenüber politischen Konzepten vor dem Hintergrund historischer Beispiele wird in dem Essay ausgelotet und gezeigt, dass die nicht-geplanten, freiheitlichen Praktiken der Stadteinwohnerschaft im "unvollkommenen System Stadt" urbane Tatsachen schaffen. Zum Beispiel sei ein Platz "nicht einfach nur ein Platz", sondern hinzu kam bei der herkömmlichen Bedeutung von "Stadt", welche Anwohner in welcher Weise den Platz mit Bedeutung erfüllen (oder nicht).

Aber Sassen verweist auch darauf, dass die Möglichkeiten des Stadtbürgers bedroht seien, wenn "akute Prozesse, die Städte deurbanisieren", umgesetzt werden:

Unter diesen Kräften der Deurbanisierung sind in der gegenwärtigen Zeit extreme Formen der Ungleichheit, die Privatisierung von urbanem Raum mit ihren verschiedenen Verdrängungen und die rasche Ausbreitung von massiven Überwachungssystemen in den am meisten "fortgeschrittenen" Demokratien weltweit. Diese Kräfte bringen das Sprechen der Stadt zum Schweigen und zerstören städtisches Potential.

Hier geht es nicht etwa um Verschwörung; Sassen zeigt einen Umbruch bei der Bedeutung von "Stadt" und eine umfassende Entwicklung, die größere Maßstäbe mit sich bringt, als es uns lokale Politiker oft darstellen möchten. Eingebettet ist die Entwicklung in Transformationen der Stadt im kapitalistischen Kontext bis heute. "Beispielsweise hat heute das Wirken der großen Firmen für Deregulierung, Privatisierung und neue fiskalische und monetäre Politiken in globalen Städten Form und Konkretheit angenommen." Dabei steht auch die Sichtbarkeit von bestimmten Schichten auf dem Spiel, wie es nicht in der traditionellen Stadt der Fall war. In diesem Zusammenhang sieht Sassen Occupy und neue Formen von Protestkundgebungen bis in den Mittelstand hinein wirken: "Präsent, sichtbar füreinander zu werden, kann den Charakter von Machtlosigkeit verändern." So könne auch Politik von unten bewirkt werden.

Etwa bei der Demonstration in Berlin zum Thema "Wem gehört die Stadt?" mit rund 2500 Teilnehmern während des bundesweiten Aktionstags am 28. September sah es nicht so aus, als wollte man moralisch an die Politik appellieren. Es ging offenbar darum, präsent zu sein, da Randgruppen und Arme alltäglich immer mehr ausgegrenzt werden. Entgegen der Marktlogik meldete man grundlegenden sozialen und kulturellen Bedarf an. Zu den Teilnehmenden zählten Mietergemeinschaften gegen Verdrängung aus Kreuzberg ("Kotti und Co") und Pankow, die Kampagne "Zwangsräumungen verhindern", Aktivisten des Refugee-Protestcamps am Oranienplatz, Studenten, die den Bau von studentischen Wohnheimen forderten und Teilnehmern aus selbstverwalteten Kulturprojekten wie der "Linienstraße 26" und der "KvU- Kirche von unten".

Doch bespricht die Stadtregierung Wohnungsnot auf ihre eigene Weise. Kürzlich wurden zwar in Berlin von CDU- und SPD-Sprechern überteuerte Mieten als Problem anerkannt. Man versprach, dass gesetzliche Reparaturen abhelfen könnten. Aber der größte Mechanismus seit Jahren, Privatisierungen und die Ermöglichung von Spekulation mit Stadtraum in Krisenzeiten, blieb vernebelt. Erklärt wird Wohnungsknappheit mit "Versäumnissen", und gerne wird auch mit der Attraktivität Berlins für Neu-Berliner argumentiert. Demnach würden vor allem Bevölkerungsentwicklung und etwas Marktgeschehen die Stadtentwicklung steuern. Das hört sich nach "Diversity" an und passt recht gut zu Darstellungen der Berliner Freizeit-Industrie. Wer denkt da noch daran, dass Stadtumstrukturierung zu großen Teilen top down umgesetzt wurde und mit Wohnverhalten von unten nichts zu tun hatte?

Der öffentliche Wohnungsbau wurde beispielsweise seit 2003 stark reduziert auf etwas mehr als 3.000 Wohneinheiten jährlich. Zugleich wurden öffentliche Liegenschaften und Wohnungen zügig privatisiert; Grundstücke gingen an den Höchstbietenden, fast gänzlich ohne soziale Auflagen für den Käufer. 85.000 Wohnungen aus landeseigenem Bestand verkaufte der alte CDU-SPD-Senat. Ab 2004 gab die SPD-Linke-Regierung weitere 150.000 öffentliche Wohnungen für Finanzinvestoren frei, deren bekanntestes Beispiel der Investmentfonds von "Cerberus" war.

Die Politik für den "Abschied vom sozialen Auftrag" dokumentiert die "Berliner Mietergemeinschaft" ausführlich in ihrer Zeitung "Mieterecho" vom August 2009 und auf ihrer Wwbsite. Zuletzt behielt auch der neue CDU-SPD-Senat den Kurs bei, etwa mit der Fortführung des "Mediaspree"-Projekts. In seine Zeit fallen auch die mit zunehmender Härte - etwa bei der Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg - durchgeführten Zwangsräumungen.