Umfassende Überwachung raubt der Weltbevölkerung ihr Recht auf Privatheit

Fünf Augen und ein Blick ins Geschichtsbuch

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Der Effekt, dass Ereignisse der Weltgeschichte von Zeitzeugen nicht als so bedeutsam wahrgenommen wurden, wie dies später rückblickend geschieht, ist wohlbekannt. Bei der derzeit vorherrschenden Wahrnehmung der ungeheuerlichen Überwachungsprogramme der 'five-eyes'-Dienste ist das nicht anders. Kaum jemand macht die Einzigartigkeit der Ereignisse um uns herum wirklich öffentlich deutlich.

Wer nachvollziehen möchte, welcher Flurschaden mit den Aktivitäten der Nachrichtendienste von USA, Vereinigtem Königreich, Kanada, Australien und Neuseeland eigentlich gerade angerichtet wird, möge sich mit auf die folgende Reise in die Vergangenheit von vor dreißig Jahren begeben, in der es weder Internet noch Email oder andere der heute selbstverständlichen modernen Kommunikations- und Informationskanäle gab.

Wir befinden uns im Jahre 1983 (Die RYAN-Krise - als der Kalte Krieg beinahe heiß geworden wäre). Der kalte Krieg hat einen späten Höhepunkt erreicht. Die Aufrüstung des westlichen Militärbündnisses mit atomaren Mittelstreckenwaffen gemäß des NATO-Doppelbeschlusses bringt Millionen von Demonstranten auf die Straßen. Unter nie gänzlich aufgeklärten Umständen wird ein südkoreanisches Verkehrsflugzeug mit Hunderten von Menschen an Bord von der sowjetischen Luftwaffe über der sibirischen Halbinsel Sachalin abgeschossen. Und wohl nur die Weigerung eines einzelnen russischen Offiziers, seiner Dienstanweisung zu folgen, bewahrt die Welt vor einem vernichtenden Atomkrieg (Stanislaw Petrow und das Geheimnis des roten Knopfs).

Nun stelle man sich nur für einen Moment vor, dass in dieser Atmosphäre des abgrundtiefen Misstrauens, der Verunsicherung und der stellenweise vorhandenen Kriegslüsternheit folgende Nachricht die Runde macht: Die Sowjetunion hat über dem Nordatlantik eine Luftsicherheitszone errichtet und leitet die Frachtflugzeuge, die die Luftpost zwischen Nordamerika und Europa befördern, nach Kuba um und bringt sie in Havanna zur Landung. Dort werden die Postsendungen von Agenten des KGB entladen, die Briefe geöffnet und fotokopiert. Anschließend werden die Briefe wieder verschlossen und verladen, und die Flugzeuge zu ihren eigentlichen Bestimmungsorten gelassen. Auch die Flüge mit Regierungskorrespondenz sind betroffen.

Wie wäre wohl die Reaktion der Regierungen der NATO-Staaten ausgefallen? Wie hätte die Presse darüber berichtet? Wäre man der veröffentlichten Rechtfertigung des Warschauer Paktes, es handle sich um eine erforderliche Maßnahme zur Sicherung des Friedens, gefolgt? Oder wäre die Resonanz eine andere gewesen? Hätte man das nicht vielmehr als einen aggressiven, gar kriegerischen Akt gegen die freie Welt bezeichnet, der nicht akzeptabel ist? Hätte nicht die überwältigende Mehrheit der Regierungen der Welt darauf gedrängt, dass das umgehend eingestellt wird? Hätte die US-Luftwaffe eingegriffen und wäre daraus am Ende ein großer Krieg entstanden? Und wie hätten wohl die Titelblätter der großen und kleinen Zeitungen und Nachrichtenmagazine ausgesehen?

Man muss wahrlich kein Prophet sein, um all diese Fragen zu beantworten. Umso erstaunlicher ist es, dass heute, wo - abgesehen vom Fehlen von beteiligten Besatzungsmitgliedern von Frachtflugzeugen - im übertragenen Sinne genau das gleiche vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet, diese Fragen nur ganz selten und mancherorts gar nicht gestellt werden. Dabei gibt es keinen Grund, das umfassende Abfangen und Analysieren der weltweiten elektronischen Kommunikation durch die Spionageprogramme der "five-eyes" nicht genau so zu bewerten, wie oben geschildertes hypothetisches Verhalten des KGB beurteilt worden wäre: als aggressiven, kriegerischen Akt gegen die freie Welt, der umgehend eingestellt werden muss.

Nun ist man hier in Deutschland und Europa vielerorts geneigt, das Handeln der "five-eyes" durch eine verklärende rosarote Brille zu betrachten, aus der irgendwie gearteten Überzeugung heraus, die westlichen Geheimdienste seien doch "die Guten", die beauftragenden Regierung seien "unsere Freunde" - und das alles gar nicht so schlimm.

Der Irrtum könnte nicht größer sein: NSA, GCHQ und die anderen sind ganz gewiss nicht "die Guten", und die Verantwortlichen in Washington und London sind uns, wie es sich nunmehr unübersehbar abzeichnet, auch nicht freundlich gesinnt. Spätestens die mannigfaltigen Beweise dafür, dass diese Programme zur Überwachung von Diplomaten und Regierungsmitgliedern sowie zur Wirtschaftsspionage, also zum Diebstahl von Geschäftsgeheimnissen, Know-how und Arbeitsplätzen genutzt werden, machen klar, dass wir Opfer eines großen, beispiellosen Angriffs mit modernen Waffen sind. Und wie bei nahezu jeder Kriegshandlung gehört eine Unzahl an zivilen Opfern dazu.

Die Schäden für die Freiheitsrechte der Menschen in Deutschland und Europa, deren Privatsphäre fortwährend aufs Übelste verletzt wird, sind noch gar nicht absehbar, geschweige denn die Spätfolgen dieser Verbrechen sowohl für den Einzelnen als auch für Gesellschaft und Demokratie sowie für das Vertrauensklima in der internationalen Staatengemeinschaft.

Vorbild Brasilien

Angesichts dieser Lage ist das bisherige Verhalten der Regierungen der meisten angegriffenen Staaten mehr als unzureichend. Wer sich als für die innere Sicherheit zuständiger Minister damit begnügt, sich in Washington vom dortigen Amtskollegen und Geheimdienstfunktionären mit Lügen und Beschwichtigungen abspeisen zu lassen, wird seinem beeideten Auftrag, Schaden vom Volk abzuwenden, in keiner Weise gerecht. Wer als für die Geheimdienste zuständiger Minister glaubt, die unbequeme Affäre einfach so für beendet erklären zu können, lässt seine Wähler und deren Nachbarn im Stich. Und eine Regierungschefin, die derart eklatantem Fehlverhalten ihrer Minister tatenlos zusieht und das Problem auszusitzen versucht, macht sich an dem begangenen Unrecht mitschuldig.

Einen ersten Fingerzeig, wie eine angemessene Reaktion eines mit solchen Methoden angegriffenen Landes aussehen könnte, hat die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff gegeben. Eine deutsche Bundesregierung, die sich ihren Aufgaben gemäß verhalten und schützend vor die eigene Bevölkerung stellen würde, könnte einen ganzen Katalog von Maßnahmen ergreifen, um die Umtriebe der "five-eyes"-Dienste in völkerrechtsstaatliche Schranken zu weisen. Die Möglichkeiten sind vielfältig:

  1. Einbestellung der Botschafter der "five-eyes"-Nationen.
  2. Beantragung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen das Vereinigte Königreich.
  3. Sofortige Aufkündigung des SWIFT-Abkommens zum Transfer von Bankdaten in die USA.
  4. Sofortige Aufkündigung der PNR-Abkommen zum Transfer von Fluggastdaten in die USA und nach Australien.
  5. Beendigung der "Safe-Harbor'-Praxis zur erleichterten Datenverarbeitung in den USA.
  6. Aussetzen der Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen TFTP.
  7. Abtrennen aller Militär- und Geheimdienststützpunkte der "five-eyes"-Nationen in Deutschland von den Kommunikationsnetzen. Androhung der Schließung der Standorte samt zeitnaher Ausweisung des für den Abbau nicht benötigten Personals
  8. Vorlage eines völkerrechtlich verbindlichen UN-Abkommens, dass Geheimdiensten das Infiltrieren, Manipulieren und Anzapfen von Kommunikationsnetzen von Drittstaaten verbietet.
  9. Vorlage eines völkerrechtlich verbindlichen UN-Abkommens, dass Whistleblowern, die Verletzungen von völkerrechtlich verbindlichen UN-Abkommen aufdecken, in allen UN-Staaten Asylrecht garantiert.
  10. Vorlage eines völkerrechtlich verbindlichen UN-Abkommens, dass jedem Menschen den grundsätzlichen Schutz seines Menschenrechts auf Privatheit gegenüber allen staatlichen und privaten Instanzen in allen Staaten, samt Klage- und Auskunftsrecht, garantiert.

Angesichts des Gewöhnungseffektes, der durch die immer neuen Details zu den Aktivitäten der "five-eyes" erzeugt wird, droht die Brisanz der Situation zu verblassen. Aber wenn nicht jetzt entschlossen und konzertiert seitens der angegriffenen Staaten gegen die Aggressoren vorgegangen wird, droht ein Szenario, in dem solche Untaten stillschweigend akzeptiert werden. Die dadurch erfolgende Unterhöhlung sämtlicher nationaler und multilateraler Datenschutzregelungen ließe letztendlich die gesamte Weltbevölkerung um ihr Recht auf Privatheit beraubt zurück.

Wer also jetzt weiter untätig bleibt und die Möglichkeiten des Schutzes vor den Aktivitäten der "five-eyes"-Spionen ungenutzt lässt, macht sich an einer beispiellosen Entrechtung der Menschen und Verhöhnung der Rechtsstaatlichkeit mitschuldig. Man darf gespannt sein, ob auch die kommende Bundesregierung in diese Kategorie fallen wird. Die Erkenntnis der letzten Stunden, dass offenbar auch die Bespitzelung der deutschen Bundeskanzlerin zu den Aufgaben der "five-eyes"-Dienste gehörte, lässt zumindest Hoffnung aufkeimen, dass die Gleichgültigkeit und Untätigkeit der Führung in Berlin nun, wo man selbst persönlich betroffen ist, der Vergangenheit angehören wird.

Gastkommentar von Kai-Uwe Steffens vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat).