"Hier muss kräftig gegengesteuert werden"

Der Bundesrichter Dieter Deiseroth zur NSA-Affäre, zu Geheimverträgen, Verfassungsbrüchen und der Souveränität Deutschlands

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dr. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, hat eine Debatte zu möglichen rechtspolitischen Folgerungen aus der NSA-Affäre angestoßen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Rechtspolitik erschien sein Aufsatz "Nachrichtendienstliche Überwachung durch US-Stellen in Deutschland - Rechtspolitischer Handlungsbedarf?". Telepolis hatte die Gelegenheit, ihn dazu zu interviewen.

Herr Dr. Deiseroth, offiziell gilt Deutschland seit der Wiedervereinigung als vollständig souveräner Staat. Im so genannten "2+4-Vertrag" vom 12. September 1990 haben die Besatzungsmächte dies formal erklärt. Jedoch wurde kaum zwei Wochen später, am 25. September 1990, eine Vereinbarung mit den Alliierten getroffen, die Ausnahmen festlegt. Man berief sich dabei auf den "Deutschlandvertrag" und den "Aufenthaltsvertrag", zwei Abkommen aus den 1950er Jahren. In diesen Ausnahmen geht es um die weitere Stationierung ausländischer Truppen, sowie um sogenannte "Überwachungs- und Geheimdienstvorbehalte". Wie souverän ist Deutschland somit juristisch gesehen heute wirklich?

Dieter Deiseroth: Deutschland ist völkerrechtlich gesehen ein souveräner Staat. Im sogenannten 2+4-Vertrag, der am 15. März 1991 in Kraft getreten ist, ist wirksam vereinbart worden, dass die drei Westmächte und die Sowjetunion "hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes" beenden. Außerdem wurde darin festgelegt, dass "die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der vier Mächte aufgelöst" werden. Das vereinte Deutschland habe "demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten". Das steht so in Artikel 7 des 2+4-Vertrages. Damit gibt es in Deutschland kein originäres Besatzungsrecht mehr, das die völkerrechtliche Souveränität Deutschlands beschränkt oder gar aufhebt.

Es existieren allerdings weiterhin Souveränitätsbeschränkungen Deutschlands zugunsten der früheren westlichen Besatzungsmächte auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge aus den 1950er und 1960er Jahren, in die früheres Besatzungsrecht eingeflossen war. Diese Abkommen verschaffen zum Beispiel den USA nach wie vor erhebliche Handlungsmöglichkeiten in Deutschland, die nur sehr schwer zu kontrollieren sind.

Dieter Deiseroth

Welche vertraglichen Souveränitätsbeschränkungen sind dies?

Dieter Deiseroth: Es geht dabei vor allem um Abkommen über das Recht der drei Westmächte zur Stationierung von Militär in Deutschland und damit in Zusammenhang stehende Befugnisse zum "Schutz der Sicherheit von in der Bundesrepublik stationierten Truppen". Grundlage dafür sind nach wie vor Artikel 4 Absatz 2 Satz 2 und 3 sowie Artikel 5 Absatz 1 und Absatz 2 des so genannten Deutschland-Vertrages in Verbindung mit Artikel 1 des Aufenthaltsvertrages. Beide Verträge sind seit dem 5. Mai 1955 in Kraft.

Ferner muss man dazu insbesondere auch das mit Deutschland abgeschlossene - diskriminierende - Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut von 1959 rechnen, das 1963 in Kraft gesetzt wurde. Hinzu kommt eine Vielzahl von völkerrechtlichen Vereinbarungen, die die Bundesrepublik unter anderem mit den USA im Hinblick auf die Anwesenheit ihrer Truppen insbesondere zur "Förderung und Wahrung der Sicherheit" sowie in Bezug "auf den Schutz des Vermögens der Bundesrepublik, der Entsendestaaten und der Truppen, namentlich auf die Sammlung, den Austausch und den Schutz aller Nachrichten, die für diese Zwecke von Bedeutung sind", abgeschlossen hat.

Welche Bedeutung haben diese Abkommen für die nachrichtendienstlichen Ausspähaktionen der US-Stellen in Deutschland?

Dieter Deiseroth: Nehmen wir das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut (ZA-NTS). Nach Artikel 3 sind die deutschen Behörden und die der Gaststreitkräfte, damit also auch ihre Nachrichtendienste, "zu gegenseitiger Unterstützung" verpflichtet. Diese erstreckt sich insbesondere "auf die Förderung und Wahrung der Sicherheit sowie den Schutz des Vermögens der Bundesrepublik, der Entsendestaaten und der Truppen, namentlich auf die Sammlung, den Austausch und den Schutz aller Nachrichten, die für diese Zwecke von Bedeutung sind". Außerdem bezieht sich diese vertraglich vereinbarte gegenseitige Unterstützung "auf die Förderung und Wahrung der Sicherheit sowie auf den Schutz des Vermögens von Mitgliedern der Truppen und der zivilen Gefolge und Angehörigen sowie von Staatsangehörigen der Entsendestaaten, die nicht zu diesem Personenkreis gehören". Im Rahmen dieser Zusammenarbeit "gewährleisten die deutschen Behörden und die Behörden einer Truppe durch geeignete Maßnahmen eine enge gegenseitige Verbindung".

Die Weite und Unbestimmtheit dieser Regelungen eröffnet weite Handlungsfelder und Grauzonen. Da auf Artikel 3 ZA-NTS in zahlreichen Gesetzen und völkerrechtlichen Vereinbarungen Bezug genommen wird und da die Vorschrift - augenscheinlich bewusst - nur sehr vage formuliert ist, stellt sie eine offene Flanke für den Grundrechtsschutz in Deutschland dar.