Leben wie die Maden im Speck

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 3

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In dieser Folge seiner demokratiekritischen Artikelreihe setzt sich der Allensbacher Politologe und Wissenschaftsjournalist Wolfgang J. Koschnick mit der Tatsache auseinander, dass die armen Parlamentarier angeblich im Dienste des Gemeinwohls so entsetzlich viel schuften müssen und dafür so erbarmungswürdig schlecht bezahlt werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Alle Abgeordneten haben sich im Laufe der Jahrzehnte gehörige Einnahmen aus den verschiedensten Töpfen zugeschustert und nehmen große Mühen in Kauf, um diese vielfältigen Einnahmequellen zu verschleiern. Für die Parlamentarier aller Ebenen stehen ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen an der ersten Stelle. Die Interessen der Bevölkerung laufen irgendwo unter "ferner liefen".

Die Verteidiger des repräsentativen Parlamentarismus halten den Kritikern entgegen, es komme überhaupt nicht darauf an, dass die Zusammensetzung des Parlaments ein haargenaues Spiegelbild der Gesamtbevölkerung bilde. Und damit haben sie ohne jeden Zweifel Recht. Wenigstens zum Teil.

Wenn die Proportionen an der einen oder anderen Stelle ein bisschen verrutscht sind und in den Parlamenten von der einen oder anderen Sozialschicht ein paar mehr Leute sitzen als in der Gesamtbevölkerung, ist das kein Weltuntergang und auch noch nicht das Ende der demokratischen Repräsentation.

Wenn aber in einem Parlament große Teile der Bevölkerung, die jeweils mehrere Millionen Menschen einschließen, überhaupt keinen Repräsentanten haben, stellt sich die Lage schon ganz anders dar. Dann nämlich haben diese vielen Millionen Menschen keinen Fürsprecher im Parlament. Sie kommen praktisch in der politischen Wirklichkeit der Demokratie nicht vor. Es gibt sie nicht als Faktor, mit dem man rechnen müsste. Es gibt sie zwar, aber man braucht sich als Parlamentarier nicht um sie zu kümmern. Sie sind die politischen Nichtse der Nation.

Viele politische Entscheidungen laufen ja auf eine Polarisierung hinaus: Da geht es um die Interessen der Arbeitslosen gegen die der Beschäftigten, der Beamten, Angestellten und Arbeiter gegen die der Unternehmer. Und wenn keiner da ist, der zum Beispiel die Interessen der Arbeitslosen, der Hartz-IV-Empfänger, der allein erziehenden Mütter oder der Rentner artikuliert, dann obsiegen im Zweifelsfall diejenigen, deren Interessen im Widerspruch zu denen der Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfänger, allein erziehenden Mütter oder Rentner stehen.

Natürlich weisen die Parlamentarier dies weit von sich und meinen, in ihren Händen seien die Interessen der gesamten Bevölkerung bestens aufgehoben. Schließlich seien sie doch die getreuen Sachwalter der Interessen des kleinen Mannes und der wirtschaftlich Schwachen, und schon immer habe ihr Herz für die Unterdrückten und Entrechteten geschlagen.

Doch Abgeordnete, die im Gewande des Robin Hood daherstolziert kommen, gehören in den Karneval. In der Politik haben sie nichts zu suchen. Da geht es um die knallharte Vertretung von Interessen und nicht um die gutherzige Fürsorge für die Armen und die vom Schicksal Gebeutelten.

Patriarchalische Vertretung ist demokratiefeindlich

Die Behauptung, die Parlamentarier verträten die Interessen der gesamten Bevölkerung, ist nichts als Augenwischerei und ein in seiner überheblichen Penetranz nur schwer erträgliches patriarchalisches Argument; denn im harten Widerstreit der Interessen kann sich im Endeffekt nur durchsetzen, wer im Prozess der Willensbildung auch stark vertreten ist.

Und selbst, wenn das nicht so wäre: Die patriarchalische Wahrnehmung fremder Interessen ist das genaue Gegenteil von demokratischer Interessenvertretung. Es ist übelster und rückständiger Patriarchalismus der parlamentarischen Parteien, wenn sie nach Gutsherrenart argumentieren, sie würden die Interessen vieler Menschen auch dann wahrnehmen, wenn diese gar nicht im Parlament repräsentiert sind.

Es ist eine zutiefst antidemokratische Sichtweise. Mit derselben Begründung, mit der man die Vertretung der Interessen von Arbeitern, Rentnern, Hausfrauen in die Hände eines Beamtenparlaments legt, könnte man die Interessen der gesamten Bevölkerung auch in die Hände von Behörden legen. Nur: Dann wäre für jedermann erkennbar, dass dies mit Demokratie nichts mehr zu tun hat. Patriarchalismus und Demokratie sind nun einmal unvereinbar.

Es geht bei demokratischen Institutionen nicht darum, dass Menschen ihre eigenen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder sonstigen Interessen vertrauensvoll in fremde Hände legen und dann auch noch hoffen, dass die sich dann ordentlich darum kümmern. So kann und soll Demokratie nicht funktionieren.

Wenn in Parlamenten, die fest in der Hand der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes sind, Gesetze zu verabschieden sind, in denen es um die wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Interessen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes geht, ist nicht damit zu rechnen, dass die Gesetze sich zu deren Ungunsten auswirken. Im Gegenteil.