"Armutslöhne haben eine wichtige Funktion"

Arbeits- und Sozialrechtsprofessorin Helga Spindler über den Zusammenhang von Armut und wirtschaftlicher Prosperität. Teil 1

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Laut einem unlängst publizierten Bericht des Statistischen Bundesamts war im Jahr 2012 fast jeder Fünfte in Deutschland von Armut betroffen. Das sind rund 16 Millionen Menschen. Gleichwohl wird Deutschland immer wieder für die niedrige Arbeitslosenquote und das relativ positive Wirtschaftswachstum gelobt. Wie geht das zusammen? Telepolis fragte dazu die Sozial- und Arbeitsrechtsprofessorin Helga Spindler.

Frau Spindler, Deutschland steht, was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft, gar nicht so schlecht da. Warum hat diese Situation keine positive Auswirkung auf große Teile der Bevölkerung?

Helga Spindler: Ganz einfach deshalb, weil der gemeldete wirtschaftliche Erfolg teilweise auf wachsender Armut von Arbeitnehmern aufbaut. Dieser Zusammenhang wird jedoch verleugnet und verdrängt. Wir werden wohl informiert, dass einerseits "die Wirtschaft" zulegt und andererseits die Armutsquote steigt. Das Problem aber ist, dass die Statistiken keine Zusammenhänge aufzeigen können, dass sie mehr oder weniger als Zahlenspiele erscheinen.

Je nachdem, ob Sie für 2011 die Armutsgrenze für eine Person bei einem Haushaltseinkommen von 980 Euro netto pro Monat oder eher unter 900 Euro pro Monat ansetzen, welche statistische Datensätze überhaupt zur Verfügung stehen, liegt die Armutsquote zwischen 14 und 16 Prozent. Aber niemand kann bei dieser abstrakten Quote so richtig einschätzen, ob sie schon beunruhigend ist, welcher Lebensstandard damit noch möglich ist.

Gerade auch die Regierung beruhigt uns damit, dass die Armutsrisikoquote in unserem reichen Land nichts über den Grad individueller Bedürftigkeit aussage. Typisch etwa die Irritation der Redaktion meiner Lokalzeitung, die sich seit Oktober wundert: "Trotz Boom mehr Arme". Aber vielleicht müsste sie nur mit einer andern Deutung herangehen, um die Entwicklung zu verstehen: Boom wegen mehr Armen.

Gespaltene Wahrnehmung

Wie ist es möglich, dass das Ausmaß der Armut nicht in die Öffentlichkeit gedrungen ist?

Helga Spindler: Das ist es, was mich beunruhigt. Es scheint eine Spaltung nicht nur in der Betroffenheit, sondern auch in der Wahrnehmung und Erfahrung zu bestehen. Auf der einen Seite stehen die, die Armut schon lange selbst oder als Beobachter und Berater wahrnehmen und dokumentieren. Auf der andern Seite stehen die, die wohl ein Problem sehen, aber weder die Dynamik noch das Ausmaß individueller Lebensbeeinträchtigung wahrnehmen oder hoffen, es durch milde Gaben, wie etwa Lebensmittelverteilung, lindern zu können.

Es spricht einiges dafür, dass das Thema Armut, genauer: Einkommensarmut bei der letzten Bundestagswahl nicht großartig wahlentscheidend war, obwohl mit der Mindestlohndebatte ja eine implizite Armutsdebatte geführt wurde, ohne den Begriff in den Mund zu nehmen. Wozu bräuchten wir denn Mindestlohn, wenn doch alles so gut läuft, die Wettbewerbsfähigkeit hervorragend ist und der Markt dafür sorgt, dass immer mehr Arbeit finden ? Immerhin hatten Linke und Grüne jeweils eigene Forderungen nach Regelsatzerhöhungen und Mindestlohnhöhen erhoben und die SPD wenigstens die Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro. Weder das eine noch das andere brachte diesen Parteien den durchschlagenden Erfolg.

Bestehende Armut mag die Menschen erregen und gerade vor Weihnachten Mitleid und Spendenbereitschaft wecken, aber wahlentscheidend war sie nicht. Ein eigenes Thema im Wahlkampf war sie auch nicht. Herr Jörges vom Stern deutete das Wahlergebnis sogar dahingehend, dass die Warnung vor steigender Armut und Ungerechtigkeit ein reines Medienkonstrukt sei, eine "dramatisch verzerrte Weltsicht", die gescheitert und zerbrochen sei.