Die Überwachung der Überwacher

Können Kameras und sonstige Überwachungsmethoden zuverlässig vor Polizeigewalt schützen?

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"Siehst Du diese Fäuste hier? Sie werden Dich gleich fertigmachen." Diese Worte sprach der Polizist Manuel Ramos am 5. Juli 2011 zu dem psychisch kranken Obdachlosen Kelly Thomas, bevor er ihn gemeinsam mit gut einem halben Dutzend seiner Kollegen auf bestialische Weise totprügelte. Die Ordnungshüter schlugen den an einer Schizophrenie leidenden Thomas buchstäblich zu einem blutigen Klumpen, dessen Gesicht kaum noch erkennbar war. Kelly Thomas verstarb fünf Tage später im Krankenhaus.

Es ist allgemein bekannt, was sich an diesem Tag auf dem belebten Busdepot in Fullerton, Kalifornien, zutrug, da der ganze Vorgang ohne Wissen der beteiligten Polizisten von einer Überwachungskamera aufgezeichnet wurde. Jeder, der die Nerven dazu hat, kann sich diese ekelerregenden und aufwühlenden Szenen etwa auf YouTube anschauen - inklusive der verzweifelten Schreie des Opfers, das in seiner Agonie die Hilfe seines Vaters, eines pensionieren Polizisten, erfleht.

Am 13. Januar erhielten die einzigen zwei Polizisten, die wegen dieses Exzesses angeklagt wurden, ihr Urteil. Die Ermittlungen gegen einen dritten Polizeibeamten, Joe Wolfe, gegen den ebenfalls wegen Totschlags ermittelt wurde, wurden vorzeitig eingestellt. Die ehemaligen Polizisten Manuel Ramos und Jay Cicinelli wurden in allen Anklagepunkten freigesprochen. Während der Staatsanwalt des Distrikts Orange Country erklärte, keine weiteren Anklagen gegen die betroffenen Ordnungshüter anzustreben, beteuerte deren Anwalt, sie hätten gemäß der Polizeibestimmungen gehandelt und nur ihre Jobs getan“. Das landesweit für Aufsehen und Empörung sorgende Urteil löste spontane Proteste in Los Angeles und in Fullerton aus. Die Familienangehörigen kündigten umgehend nach der Verlesung des Freispruchs an, alle Rechtsmittel ausschöpfen zu wollen. Zudem schaltete sich die Bundespolizeibehörde FBI in den Fall ein, um eine Anklage gegen die beteiligten Cops auf Bundesstaatsebene zu prüfen.

Dennoch scheinen die an dem tödlichen Übergriff beteiligten Polizisten der Ansicht zu sein, dass ihnen keine weiteren juristischen Auseinandersetzungen bevorstünden. Der Expolizist Jay Cicinelli hat nur einem Tag nach der Verlesung des Freispruchs durch seine Anwälte erklären lassen, er strebe eine Wiedereinstellung in den Polizeidienst an. Cicinelli und Ramos sind im Juli 2012 aus dem Polizeidienst entlassen worden.

Die Statistik gibt den gerade freigesprochenen Excops durchaus Recht. Ermittlungen gegen Polizeibeamte wegen Amtsmissbrauch oder exzessiver Gewaltanwendung sind selten, während tatsächlich Verurteilungen kaum vorkommen. Eigentlich haben die nun freigesprochenen Expolizisten schon „Pech“ gehabt, dass sie überhaupt angeklagt wurden. Dies ist nur der Überwachungskamera zu verdanken. In einigen Städten wie New Jersey führte zwischen 2008 und 2012 nur ein Prozent aller Bürgerbeschwerden zu einem Ermittlungsverfahren gegen die betroffenen Polizeibeamten. Im Landesdurschnitt waren es acht Prozent.

Dabei bilden diese offiziellen statistischen Zahlen nach Ansicht vieler Bürgerrechtler in den USA nur die Spitze des Eisberges. Viele von Polizeiübergriffen betroffene Bürger würden die Vorfälle gar nicht mehr melden, da sie dies für aussichtslos hielten, berichtete der Anwalt Michael P. Schmiege. Für die Region Chicago hat Schmiege eine Webseite eingerichtet, bei der sich Opfer von Polizeigewalt melden können. Von den rund 10.000 Beschwerden wegen Polizeibrutalität, die in Chicago nur zwischen 2002 und 2004 erhoben wurden, führten nur 19 zu einer nennenswerten Disziplinarstrafe, so eine 2007 publizierte Studie. Dies entspricht einer Verurteilungsrate von 0,19 Prozent.

Verwilderung des Sicherheitsapparates

Gegen Jahresende lassen US-Medien immer mal wieder die skandalösesten Fälle von Machtmissbrauch durch Polizeibeamte Revue passieren, bei denen etwa afroamerikanische Teenager wegen des Tragens eines Spielzeuggewehrs ohne Vorwarnung erschossen werden, Homosexuelle grundlos verhaftet oder Frauen von Polizisten bei Verkehrskontrollen vergewaltigt werden.

Die hohe Dunkelziffer und die niedrige, im Promillebereich liegende Verurteilungsrate bei Polizeigewalt und Amtsmissbrauch sind nicht nur auf den bei Polizeikräften herrschenden Korpsgeist zurückzuführen. Eine umfassende Studie des Menschenrechtskomitees der Vereinigten Nationen kam 2007 zu dem Schluss, dass der seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center geführte Krieg gegen den Terror ein Klima der Straflosigkeit“bei den Polizeikräften etabliert habe, während zugleich eine Erosion“der Kontrollmechanismen eingesetzt habe. Deswegen hielten Polizeibrutalität und Missbrauch unvermindert im gesamten Land an.

Heimkehr des Krieges

Einen wichtigen Aspekt der anhaltenden Brutalisierung und Verwilderung“des Sicherheitsapparates bildet ein im Schatten der Weltordnungskriege eingeleiteter Prozess, der als die Heimkehr des Krieges“bezeichnet werden könnte. Die zuerst in den Zusammenbruchsgebieten des kapitalistischen Weltsystems –in Somalia, Afghanistan oder Irak erprobten Methoden finden schließlich auch auf der amerikanischen „Heimatfront“ Verwendung. Dies gilt selbstverständlich zuvorderst für den rasch zunehmenden Einsatz von Drohnen bei der Verbrechensbekämpfung in den USA. Zugleich stieg die Anzahl der oftmals traumatisierten Kriegsveteranen, die nach Abschluss ihres Militärdienstes im Polizeiapparat eine zweite Berufslaufbahn einschlagen. Ein zu einem Cop ausgebildeter Exsoldat berichtete etwa von dem engen Korpsgeist, der sich zwischen den Veteranen schnell etablierte:

In der Polizeiakademie waren meine besten Freude ebenfalls ehemalige Soldaten. Wir wussten exakt, wie unsere Hirne ticken. Wir mussten uns nur anschauen. Wie mussten nicht einmal kommunizieren.

In der Tat wird dieser zweite Karriereweg sowohl vom US-Militär als auch von vielen Polizeibehörden aktiv gefördert. Die Streitkräfte bieten ihren aus dem Militärdienst ausscheidendem Personal umfassende Informationen über den Polizeidienst an. Einzelne Polizeireviere haben zudem für ehemalige Kriegsveteranen eigens Webseiten eingerichtet, um ihnen die Bewerbung zu erleichtern. Im Gefolge dieses Prozesses gelangen viele traumatisierte und brutalisierte Veteranen in den Polizeidienst, die ähnlich rücksichtslos im Polizeidienst vorgehen, wie sie es während der brutalen Weltordnungskriege der letzten Jahrzehnte gewohnt waren. Die Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik schlägt um in eine Militarisierung der Innenpolitik der USA. Der Krieg kehrt heim.

Es sind nicht nur die barbarischen Methoden, die insbesondere in den Elendsgebieten der USA die Polizeikräfte zusehends als eine Besatzungsmacht“erscheinen lassen, auch die gegenwärtige Systemkrise beschleunigt die Verwilderung“ des Sicherheitsapparates. Die sozialen Zusammenbruchs- und Desintegrationstendenzen des kapitalistischen Weltsystems, die Länder wie den Irak oder Afghanistan längst voll erfasst haben, greifen inzwischen auch in den USA um sich. Dieser Krisenprozess äußert sich in einem massiven Verelendungsschub, in der Produktion einer wachsenden Zahl ökonomisch überflüssiger“Menschen sowie in dem Anwachsen der Gettos, in denen dieser kapitalistische "Menschenmüll"“ (Zygmunt Bauman) abgeschoben wird. Einen ersten Indikator für die Verelendung in den USA stellt die Anzahl der US-Bürger dar, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen: Diese ist zwischen 2000 und 2012 von 32 Millionen auf 46 Millionen angestiegen. Zumeist sind es ja Obdachlose, die zu Opfern von Polizeiübergriffen werden.

Die Desintegrationstendenzen, die zu den US-Militärinterventionen in den Failed States“im Rahmen des War on Terror führten, greifen somit auch in den USA um sich. Für viele Veteranen der Weltordnungskriege scheint sich somit auch das soziale Umfeld den USA den Zusammenbruchsgesellschaften anzunähern, in denen sie ihre Militäreinsätze absolvierten. Sie sehen sich auch an der Heimatfront in einem Kampf gegen eine wachsende Zahl verelendeter Desperados, denen sie auch noch die Schuld an den sozialen Erosionstendenzen zuweisen. Folglich sind im überwiegenden Ausmaß marginalisierte US-Bürger, die zumeist Minderheiten wie der afroamerikanischen oder spanischsprachigen Community angehören, von Polizeiexzessen betroffen.

Der endemische Rassismus und die routinemäßige Rücksichtslosigkeit, mit der die Hüter dieser zerfallenden „Ordnung“ gegen verelendete US-Bürger vorgehen, bildete auch den Hintergrund für den Amoklauf des schwarzen Polizisten Chris Dorner, der vor einem Jahr Kalifornien erschütterte (Letzter Ausweg Amok) Der Kriegsveteran zerbrach an den Gewaltexzessen, dem Amtsmissbrauch und dem Rassismus, die den Alltag des LAPD prägen, und startete einen regelrechten Ein-Mann-Feldzug gegen die Polizei, dem mehrere Cops und deren Angehörige zum Opfer fielen.

Klima der Straflosigkeit

Ein ähnliches Klima der Straflosigkeit herrscht in Bezug auf Polizeiwillkür auch innerhalb des deutschen Polizeiapparates. Von den 1.400 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten in Nordrhein-Westphalen im Jahr 2010 führten nur 17 zu einer Verurteilung. Ähnlich sieht es in Berlin aus, wo es etwa 2008 bei 615 Verfahren wegen Körperverletzung im Amt keine einzige Verurteilung gab.

Skandalöse Vorfälle, bei denen offensichtlich exzessive Gewaltanwendung seitens der Ordnungshüter stattfand, häufen sich auch in der Bundesrepublik. Amnesty International forderte in einer Studie über die zunehmende Polizeibrutalität in Deutschland, dass bei Fällen von Polizeigewalt unabhängige Untersuchungen“durchgeführt würden, damit nicht mehr Kollegen gegen Kollegen“ermitteln müssen. Derzeit kämen die Täter in Uniform in der Regel straffrei davon, so AI-Sprecher Andreas Schwantner:

Die Staatsanwaltschaft arbeitet ständig eng mit der Polizei zusammen und ist abhängig von ihr. Da kommt es schnell zum Interessenskonflikt. ... Vielfach ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft bei Anzeigen gegen Polizisten nicht konsequent.

Tatsächlich können die Opfer von Polizeiwillkür auf eine Verurteilung der Täter in Uniform nur hoffen, wenn deren Exzesse auf Bild und Ton festgehalten wurden. In nahezu allen skandalisierten Fällen in den USA spielten Video- oder Tonaufnahmen von den Übergriffen eine entscheidende Rolle: etwa, als eine Autofahrerin einen Polizisten mit ihrer Handkamera dabei filmt, wie er einen Obdachlosen foltert, oder als eine Überwachungskamera die brutalen Misshandlungen aufzeichnete, die einem Obdachlosen in einer New Yorker Synagoge zugefügt wurden. Wie oft werden New Yorker von der Polizei misshandelt und mit falschen Anschuldigungen belastet, und es ist gerade keine Kamera zugegen, die die wahre Geschichte erzählt, fragte der Rabbi der betroffenen Synagoge, der dem Obdachlosen die Übernachtungsmöglichkeit gewährte.

Ein US-Bürger in Kalifornien ist nach entsprechenden Erfahrungen mit Polizisten sogar dazu übergegangen, prinzipiell seine gesamten Autofahrten auf Video aufzunehmen. Und prompt konnte er wenige Wochen später ein Video ins Netz stellen, in dem ein Polizist ihm droht, durch das Fabrizieren von falschen Beweisen eine Anklage gegen ihn zu erwirken. Hier sei eine Big-Brother-Taktik“gegen die Polizei eingesetzt worden, so fasste CNN diesen Skandal zusammen.

Stellt diese Taktik einer totalen Transparenz angesichts der zunehmenden Brutalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaften tatsächlich die einzige verlässliche Methode dar, um sich gegen die Exzesse eines in Verwilderung begriffen Polizeiapparats zu wehren? Den allgegenwärtigen Kameras, die uns überwachen, würden dann die Augen der Millionen Smartphone-Nutzer entgegengestellt, die jedweden Machtmissbrauch sofort öffentlich machten -– wie etwa die Hinrichtung eines geistig verwirrten Mannes am Berliner Neptunbrunnen im vergangenen Sommer. Hinzu kommen erste Versuche mit Schulterkameras, die Polizisten etwa in Frankfurt seit einem Jahr im Einsatz haben. Diese Kameras könnten nicht nur die gegen Polizisten gerichtete Gewalt reduzieren, sondern auch die Ordnungshüter vor der Anwendung exzessiver Gewalt abhalten.

Diese Idee einer totalen Transparenz weist aber einen fundamentalen Denkfehler auf: Es ist nicht der Akt der Polizeibrutalität, der in den spätkapitalistischen Gesellschaften die demokratischen Freiräume erodieren lässt und zu einer Verrohung der Polizeiapparates führt. Der Prügelpolizist ist ein Symptom einer autoritären Politik, die auf die krisenbedingten sozialen Desintegrationsprozesse im Spätkapitalismus nur mit dem Aufbau eines monströsen Überwachungs- und Repressionsapparates reagieren kann. Nicht der Exzess stellt somit das ursächliche Problem dar, sondern die korrekte Funktionsweise des immer lückenloser aufgebauten Polizeistaats- und Überwachungssystems. Schließlich wird dabei übersehen, dass Staaten wie die BRD oder die USA längst in einen Zustand der Postdemokratie eingetreten sind, bei dem die demokratischen Institutionen zwar formell weiterhin fortbestehen, aber ihrer realen Machtquellen längst verlustig gegangen sind. Längst schon herrschen auch in Polizeiapparat und Justiz vielfach Rackets und Seilschaften. Sie schaffen es, für ihre Leute auch beim Vorhandensein von Kamerabeweisen einen Freispruch zu erwirken, wie die eingangs dargelegten Vorfälle in Fullerton, Kalifornien, beweisen.