Job statt Dschihad

Ein neues Präventionsprogramm des Landes NRW will junge Muslime ansprechen, bevor sie in die gewaltbereite salafistische Szene abgleiten

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Am 24. März 2014 hat NRW-Innenminister Ralf Jäger das Präventionsprogramm "Wegweiser" gegen gewaltbereiten Salafismus vorgestellt. Wegweiser ist eine Initiative des nordrhein-westfälischen Innenministeriums und des Verfassungsschutzes in Zusammenarbeit mit lokalen Netzwerkpartnern wie Vereinen, Sozialverbänden, Moscheegemeinden, kommunalen Ämtern, Familienberatungen, Arbeitsagenturen und der Polizei. Hilfe bei schulischen Problemen gehört ebenso dazu wie psychologische Beratung oder Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche - deswegen ist das Jobcenter auch ein Netzwerkpartner. Anlaufstellen werden zunächst in Bonn, Düsseldorf und Bochum eingerichtet.

Bundesweit gibt es rund 5.500 Salafisten. Alleine in NRW sind es zwischen 1700 und 1800, von denen jeder zehnte als gewaltbereit gilt. Weil die Strömung rasant wächst und die Syrienkrise zudem eine starke Sogwirkung ausübt, ist der Verfassungsschutz alarmiert. Erreicht das Programm junge Muslime ohne Orientierung? Darüber sprach Telepolis mit Daniel Köhler. Er ist Berater in der Präventionsstelle Hayat der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH und wissenschaftlicher Leiter des Institutes for the Study of Radical Movements (ISRM).

Herr Köhler - wer ist anfällig für die Botschaften der Salafisten?

Daniel Köhler: Ein großer Teil der Jugendlichen, die sich radikalisieren, haben im Grunde einen traditionell-muslimischen oder kulturell-muslimischen Hintergrund. Überwiegend handelt es sich um Jugendliche aus Einwandererfamilien in der dritten Generation, traditionelle Muslime, die die Möglichkeit nutzen, an die - oft nicht wirklich praktizierte Religion - ihrer Eltern und Großeltern anzuknüpfen und sie neu zu entdecken. Viele haben einen sprachlichen oder kulturellen Bezug zu Syrien oder Ägypten. Außerdem gehen sie ab und zu in die Moschee. Das ist relativ säkularisiert, ein bisschen so wie Christen, die zu Weihnachten mal den Gottesdienst besuchen. Die Kinder dieser Familien haben einen starken Bezug zu den Konflikten in Syrien und anderswo und können - mithilfe der dschihadistischen Propaganda - einen völlig neuen Status für sich selbst erreichen.

Es gibt auch eine große Bandbreite von Leuten, die die Gesellschaft verändern und Ungerechtigkeit bekämpfen wollen. Das ist ein wichtiger Aspekt. Sie sind fest davon überzeugt, dass massive Ungerechtigkeit gegenüber Frauen und Kindern in der islamischen Welt geschieht, gesteuert vom Westen aus. Um diese Frauen und Kinder zu verteidigen, stehen sie auf und versuchen Ungerechtigkeit zu bekämpfen - das sind positive Werte, die mit sozialrevolutionären und idealistischen Zielen vermischt sind, die durch die dschihadistische Auslegung der Religion massiv verbreitet und verstärkt werden. Es geht um Freiheit und Gerechtigkeit für die globale Umma, verstanden als eine riesige Familie. Jeder Moslem in dieser Ideologie ist Bruder und Schwester. Und jeder Angriff auf den Islam ist ein Angriff auf seine Familie. Da gibt es Parallelen zum Rechtsextremismus: Hier geht es auch um Freiheit und Gerechtigkeit - allerdings nur fürs deutsche Volk oder die "arische Rasse".

Nehmen wir einmal ganz naiv an, alle Muslime wären voll in die Gesellschaft eingeschlossen, sie hätten genauso gute Bildungsabschlüsse, Berufsaussichten und Jobs wie alle anderen Menschen hierzulande auch. Wäre dann die Gefahr gebannt, dass die Salafisten so viel Zulauf bekämen?

Daniel Köhler: Sie wäre sicherlich geringer. Wir beobachten aber auch, dass sich radikale Milieus ständig neue Themen suchen. Wo muslimische Frauen, Kinder und Männer leiden und wo es ihnen schlecht geht, sei es in Afghanistan, Syrien oder Somalia, wird das immer als Teil eines globalen Kriegs gegen den Islam interpretiert. Wir dürfen das nicht falsch verstehen: als eine Form von Desintegration und Pathologisierung. Wir haben viel Forschung betrieben, um zu zeigen, dass das sehr viel mit der Anziehungskraft der Ideologie zu tun hat.

Die Ideologie wirkt - und nicht einfach nur Arbeitslosigkeit und Armut. Denn sonst könnten wir nicht erklären, warum sehr viele andere Arbeitslose oder desintegrierte Menschen nicht radikalisiert werden. Es gibt einen ideologischen Mehrwert, der noch mehr gibt, als das, was reine sozioökonomische Faktoren geben können: ein Gefühl der Geborgenheit - auch in Hinsicht auf das Jenseits.

Welche Rolle spielt der Abenteuerfaktor bei Salafisten, die sich vom Dschihad angezogen fühlen?

Daniel Köhler: Eine sehr Große. Vergleicht man Syrien mit Afghanistan, so sieht man, dass es in Afghanistan ebenfalls einen relativ starken Zugfaktor von deutschen Dschihadisten gab. Es gab etwa die deutschen Taliban-Mudschaheddin, die eine eigene Einheit bei den Taliban gebildet haben. Aus verschiedenen Gründen waren dort eher Kinder aus der Mittelschicht und Oberschicht vertreten.

In Syrien dagegen ist der Anteil der sozialen "Verlierer" überrepräsentiert, die keine Zukunftsperspektiven haben. Das hat verschiedene Gründe: Es ist ziemlich einfach, sehr schnell und billig nach Syrien zu reisen. Man braucht zum Beispiel kein Visum. Die Engländer haben dafür den Ausdruck geprägt: "From zero to hero". Außerdem ist die Propagandastruktur im Fall von Syrien viel professioneller geworden. Die Netzwerke sind massiv ausgebaut worden.

Beim neuen Präventionsprogramm des Landes NRW ist der Verfassungsschutz beteiligt. Werden nach den Ermittlungspannen der Sicherheitsbehörden beim NSU nicht gerade jene muslimischen Milieus sich jedem Kontakt mit Behörden verweigern, um die es geht?

Daniel Köhler: Die Zielgruppe der radikal eingestellten Jugendlichen wird damit nicht erreicht, genauso wenig wie ihre Familien und Angehörigen. Das zeigt unsere Erfahrung seit drei Jahren. Das legt übrigens auch die Erfahrung mit Prävention gegen Rechtsextremismus nahe. Die Bundesregierung hat Anfang 2012 die einzigen beiden bundesweiten Deradikalisierungsprogramme für Rechtsextremisten [EXIT-Deutschland, nicht-staatlich und Bundesamt für Verfassungsschutz, staatlich] verglichen [Bundestagsdruckssache 17/9119]. Sie ist dabei zu folgendem Ergebnis gekommen: EXIT Deutschland hat als nicht-staatliches Programm fast viermal so viele Anfragen bekommen wie das staatliche Pendant beim Bundesamt für Verfassungsschutz - und diese in der Regel aus dem hoch radikalisierten Milieu. Programme vom Verfassungsschutz erzeugen bei der Zielgruppe wenig Vertrauen, das gilt für den Islamismus noch einmal besonders verstärkt.

Wo der Verfassungsschutz auftritt, werden Salafisten und Betroffene in der Regel jeden Kontakt meiden. Was das Programm indes leisten kann (und wird) ist, niedrig-schwellige Aufklärungs- und Präventionsarbeit. Aber es wird wohl nur sehr schwerlich ein Ausstiegsprogramm werden. Nicht ohne Grund hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Beratungsstelle Radikalisierung aufgebaut, welche seit drei Jahren bundesweit exakt die gleichen Aufgaben erfüllt, wie sie das "Wegweiser"-Projekt nun leisten soll. Bei der Hotline des Verfassungsschutzes - "Hatif" - haben innerhalb von vielen Jahren nur eine Handvoll Personen angerufen, während die Beratungsstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge seit 2011 rund 800 Anrufe bekommen und sich um mehr als 200 Fälle gekümmert hat. Die Beratungsstelle, von der das Hayat-Programm ein Teil ist, ist damit ein einzigartiger Erfolg - und wird international auch so wahrgenommen.

Wie lange dauert es, bis man als Berater einer Stelle gegen gewaltbereiten Salafismus das Vertrauen von Betroffenen gewinnt?

Daniel Köhler: Bei der Deradikalisierungsarbeit ist das erste Gespräch der entscheidende Knackpunkt. In der Regel rufen die Familien anonym an und testen die Beratungsstelle. Sie geben ein paar Informationen und schauen, welche Art von Beratung sie bekommen. Haben sie das gute Gefühl, dass sie verstanden werden und dass die Ratschläge sinnvoll sind, rufen sie wahrscheinlich wieder an.

Wie sähe denn ein sinnvolles Präventionsprogramm gegen Salafismus aus?

Daniel Köhler: Wir haben festgestellt, dass die Familienberatung, die von zivilgesellschaftlichen Partnern durchgeführt wird, der entscheidende Faktor ist. Weil Familien den Wandel bei den Angehörigen in 80 bis 90 Prozent der Fälle wahrnehmen. Von Äußerlichkeiten abgesehen bemerken die Familien etwa verändertes Verhalten und Rückzug. Erst wenn Familien das Vertrauen haben, dass sie sich an eine kompetente und unabhängige Stelle wenden können, wo sie schnell und kostenlos beraten werden, gewinnen sie Vertrauen.

Die Berater müssen eine komplette Hilfestellung bei allem geben, was da kommen mag: die Reise nach Syrien, der Aufenthalt dort, die Ausreise oder der Tod in Syrien - einfach alles. Die Idee hinter der Hayat-Beratungsstelle ist, gleichberechtigter Vermittler zu sein, eine Brücke zwischen Familien und allen anderen Partnern. Seien es Schulen, Sozialämter oder die Polizei. Also Partner, die relevant sind, um mit der Familie auf den radikalisierten Angehörigen einwirken zu können. Die Beratungsstelle versteht sich als Anwalt der Familie und zugleich als Anwalt der Sicherheitsbehörden - darin besteht ihre Brückenfunktion. Das hat sich als sehr erfolgreich herausgestellt, weil es ansonsten sehr schwierig ist, an das Umfeld des Radikalisierten heranzukommen.

Und das ist bei dem Präventionsprogramm in NRW nicht gegeben?

Daniel Köhler: Bei einer effizienten Ausstiegsberatung muss die Person, die aussteigt, im Zentrum stehen. Und sie muss auch geschützt werden können. Auch vor dem Zugriff der Sicherheitsbehörden auf Informationen, die den Ausstiegsprozess gefährden könnten - solange nicht Interessen Dritter gefährdet sind. Da gibt es Kriterien und Standards, ab wann Sicherheitsbehörden einzuschalten sind. "Hayat" hat das ausdekliniert und sehr transparent die Standards offengelegt.

Man erklärt der Familie, wo ihre Rechte und Pflichten sind, wo man zusammen mit den Sicherheitsbehörden das Risiko für alle minimieren kann. Auf der anderen Seite muss man auch in der Lage sein können, den Sicherheitsbehörden zu sagen, was deren Rechte und Pflichten sind. Da muss man unabhängig in der Mitte stehen können.

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