Der Patient 0 des Euro-Rettungsschirms - Griechenland

Spareffelt: Am antiken Odeon des Herodes an der Akropolis wächst das Unkraut. Foto: Wassilis Aswestopoulos

Bessere Zeiten oder so bankrott wie nie zuvor? Eine Bilanz

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Vier Jahre Sparmemoranden brachten den Griechen einen mittlerweile von vielen Zeitgenossen angezweifelten, primären Haushaltsüberschuss und mehr als 20.000 Demonstrationen. Ist Griechenland nun gerettet?

Zumindest hatte das Land vor seinem Gang zum IWF und zu seinen EU Partnern Ende 2009 ein Etatdefizit von 15,4 Prozent und schuldete 116 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an Gläubiger.

Heute wissen wir, dass 2013 mit einem Defizit von 12,7 Prozent und einer Staatsverschuldungsquote von 175,1 Prozent abgeschlossen wurde. Der besagte Primärüberschuss des Etats liegt, je nach Berechnung bei 3,5 Milliarden Euro - wie die griechische Regierung im Wahlkampf gern verkündet oder aber bei 1,5 Milliarden Euro, wenn man den Betrag gemäß der Vorgaben des Sparmemorandums errechnet.

Chronik und Statistiken

Am 23. April 2010 verkündete der damalige Premier Giorgos Papandreou vom malerischen Eiland Kastelorizo aus den Gang Griechenlands zum IWF. Wenige Tage später ließ er im Parlament über das erste Sparmemorandum abstimmen. Seit diesem denkwürdigen 8. Mai 2010 bis zum 28. März 2014 fanden im Land 20.120 Demonstrationen statt. 6.266 davon wurden in der Hauptstadt registriert. Bei zahlreichen davon setzte die Polizei Tränengas ein, es gab Randale und eine Vielzahl von zerstörten Häusern und Ladengeschäften. An der politischen Umsetzung der Sparpläne änderte dies jedoch nichts.

Das Institut für Arbeit der Angestelltengewerkschaft GSEE ermittelte, dass innerhalb der vier Jahre Sparmemoranden

  1. die Kaufkraft der Griechen um 37,2 Prozent sank,
  2. ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die auf 475 Euro pro Monat festgelegt wurde, lebt,
  3. die Zahl der Arbeitslosen auf 1.360.000 stieg. Die Quote lag 2009 bei 9,5 Prozent und katapultierte sich bis Ende 2013 auf satte 28,5 Prozent,
  4. das Bruttoinlandsprodukt um 25 Prozent von 231 Milliarden auf 182 Milliarden Euro sank.

Aus weiteren Presseberichten und Studien kommen weitere Erfolgsmeldungen hinzu:

  1. die Ausgaben für Gehälter und Renten sanken für den Staat von 22,2 Milliarden Euro 2009 auf 17,7 Milliarden Euro 2013.
  2. Von 2010 bis 2013 wurden 24,7 Milliarden Euro neue Steuern erhoben.
  3. Die Sozialausgaben sanken von 17,2 Milliarden Euro 2009 auf 15,9 Milliarden Euro 2013.
  4. Die Staatsausgaben für Infrastruktur fielen im gleichen Zeitraum von 9,5 Milliarden Euro auf 6,6 Milliarden Euro.
  5. Die vom Staat an private Schuldner nicht beglichenen Rechnungen summieren sich auf 4,5 Milliarden Euro, weil der Staat zur Erlangung eines Primärüberschusses schlicht sämtliche Zahlungen einstellte.
  6. Durch die Strangulierung der Wirtschaft sank die Zahlungsfähigkeit der Staatsschuldner so sehr, dass die säumigen Steuerzahler dem Staat nun samt Strafgeldern, Zinsen und Zinseszinsen 62,3 Milliarden Euro schulden. 2009 waren es noch 33,5 Milliarden. Es ist das Geld, auf das sich Papandreou 2009 beim Wahlkampf mit seinem Spruch "es gibt Geld" berief. Statt dieses einzutreiben und wie versprochen unter die Wähler zu verteilen, hat die von ihm begründete Politik die Summe fast verdoppelt.

Bereits im ersten Jahr des Sparens, von 2009 bis 2010, nahmen sich 500 Männer aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes das Leben. Das zumindest behauptet eine Studie der Universität Portsmouth.

Griechischen Medienberichten zufolge ist die Zahl der Selbstmorde mittlerweile in eine Größenordnung von 5.000 Fällen angestiegen. Der Suizid gilt in Griechenland aus religiösen Gründen als absolutes Tabu.

Die heutige Parteienlandschaft - die einstige Volkspartei PASOK

Diese Zahlen schlagen sich in der Wählergunst nieder. Papandreous PASOK hatte am 20. Oktober 2009 die Wahlen mit 43,92 Prozent der Stimmen gewonnen. 160 Parlamentarier in der Vouli, dem dreihundertsitzigen Parlament garantierten eine satte Mehrheit. Nur 13,18 Prozent gab es bei den Wahlen am 6. Mai 2012.

Schließlich landete die einstige Volkspartei am 17. Juni 2012 bei nur noch 12,28 Prozent und 33 Sitzen. Heute sind nur noch 27 der mit der PASOK gewählten Abgeordneten bei ihrer Partei. Die übrigen wurden wegen ihres Widerstandes gegen Spargesetze ausgeschlossen. Dem Regierungspartner Nea Dimokratia erging es etwas besser, 125 von 129 Sitzen blieben der Partei.

Papandreou selbst hat, so vermuten es Staatsanwälte, außer dem Wählerzuspruch auch noch die Finanzen der Partei ruiniert. Teilweise sollen. berichteten vereidigte Buchprüfer, Auszahlungen von Millionensummen, wenn überhaupt, auf Waschzetteln vermerkt worden sein.

PASOK und Nea Dimokratia schulden griechischen Banken, Telekommunikationsunternehmen, dem Elektrizitätsunternehmen Public Power Company und weiteren Gläubigern zusammen mehr als 250 Millionen Euro.

Griechische Flagge am Akropolisfelsen. Foto: Wassilis Aswestopoulos

Die beiden einstigen Erzrivalen hatten den Banken gegenüber die staatliche Parteienfinanzierung der Zukunft als Sicherheit angegeben. Zum einen sanken ihre Wählerstimmen dramatisch, zum anderen wurde die gesamte Parteienfinanzierung zusammengestrichen. "Nur" sieben Millionen Euro bekommen Griechenlands Parteien für die Europawahl 2015. 2011 waren es noch 55 Millionen Euro. Jedoch haben die Altparteien mit einem Trick vorgesorgt.

Die diesjährige Finanzierung wird zur Hälfte nach den 2009 bei den Europawahlen erzielten Ergebnissen verteilt. Zehn Prozent der Gelder werden auf Basis der Parlamentswahlergebnisse von 2012 vergeben. Die restlichen vierzig Prozent gibt es dann gemäß den Resultaten der kommenden Europawahl. Damit erhält vor allem die PASOK erheblich mehr, als sie derzeit aufgrund ihres Rückhalts in der Bevölkerung zu erwarten hätte.

Zu den Europawahlen tritt die Partei nicht allein an. Sie steht nur im Wahlbündnis Elia (Olivenbaum) auf den Listen. Dieses zur Europäischen PES gehörende und Martin Schulz unterstützende Bündnis wird demoskopisch im Bereich um die fünf oder sechs Prozent gehandelt.

Kaffeesatzleserei der Demoskopen

Ganz sicher sind sich die Demoskopen nicht. Zu sehr variieren die Prozentzahlen der meist telefonischen Umfragen. Zu unterschiedlich fallen die Aussagen der Befragten aus. Die Demoskopen stehen vor unlösbaren Aufgaben. Ihre Umfrageergebnisse gleichen Kaffeesatzlesen, denn sie erhalten im Schnitt von weniger einem Fünftel der Angerufenen oder auf der Strasse befragten Wähler eine Antwort.

Die Repräsentativität der Meinungsforschungen ist somit a priori nicht mehr gegeben. Klar ist nur, dass die mit Kommunal- und Regionalwahlen kombinierten Europawahlen im Mai zur atypischen Volksabstimmung über den Euro werden.

Neue Parteien - die Zeit der Populisten

Auf Seiten der Drachmen-Befürworter treten gleich mehrere Kleinparteien an. Es ist die Zeit der Populisten, wenngleich einige Parteien und Gruppen eher an die Sektierer des Monty Python Klassikers "Das Leben des Brian" erinnern. Die "Drachme der fünf Sterne" um den früheren Papandreou-Schwager Thodoros Katsanevas versucht nach dem Vorbild Beppe Grillos und mit Slogans des seligen Andreas Papandreou, um Wähler zu werben. Der Parteiname ist Programm, die Drachme soll wieder her.

Etwas weiter links findet sich "Plan B", die Partei von Alekos Alavanos. Der einstige Mentor Alexis Tsipras verteufelt nun sein eigenes Werk, SYRIZA, und möchte mit ultralinken Parolen zurück in die Achtundsechziger. Eher nationalkonservativ bewirbt sich der Wirtschaftswissenschaftler Dimitris Kazakis mit seiner EPAM um einen Europaparlamentsplatz. Der einst kommunistisch geprägte Kazakis sammelte zahlreiche Anhänger der Truther-Bewegung um sich und mischt fundierte wirtschaftswissenschaftliche Argumente geschickt mit Verschwörungstheorien.

Die aus den Volksparteien ausgeschlossenen Parlamentarier und der gerichtlich entmachtete Regionalpräsident Thessalonikis Panagiotis Psomiadis haben sich entweder anderen Parteien angeschlossen oder aber, jeder für sich, eigene Bewegungen gegründet.

Mitten in dieses Getümmel platzte eine Pro-Europa Partei um den Journalisten Stavros Theodorakis. Mit "To Potami" (der Fluss) möchte er die politische Landschaft Griechenlands aufmischen. Fünf Prozent sind ihm nicht genug - mit so einem Ergebnis, meinte der Parteichef im Fernsehinterview, "muss man nach Hause gehen". In Umfragen wird die neue Partei, deren Programm noch nicht richtig steht, mit bis zu zweistelligen Werten gehandelt.

Gegen den Fluss tritt dessen Vorgänger, das Wahlbündnis der neoliberalen Dimourgia Ksana unter Thanos Tzimeros zusammen mit der liberalen Drasi von Thodoros Skylakakos unter dem Namen "die Brücken" (Gefyres) an. Tzimeros wurde 2012 vor den Wahlen ebenso wie Theodorakis jetzt, demoskopisch als Europafan und potentieller Überraschungskandidat gehandelt. Er scheiterte an der Sperrklausel von drei Prozent.

Trotz der Unsicherheit der Demoskopien gilt es als sicher, dass sich SYRIZA und das Trio aus Nea Dimokratia, To Potami und Goldene Morgenröte auf den ersten vier Plätzen der Parteienliste nach der Europawahl wieder finden werden.

Der derzeitige Trend im Land zeigt an, dass es im Extremfall zu einer Platzierung SYRIZA vor Potami, Goldener Morgenröte und Nea Dimokratia kommen könnte. Für die Nea Dimokratia geht es ums Überleben. Denn sollte sie ähnlich wie 2012 die PASOK abstürzen, dann ist die ohnehin wackelige politische Stabilität im Land perdu. Vor den für die PASOK katastrophalen Parlamentswahlen 2012 sagten die Demoskopen ein Kopf an Kopf Rennen von Nea Dimokratia und PASOK voraus. Als weiteren Unsicherheitsfaktor haben sie eine Verweigerung von potentiellen Wählern der Goldenen Morgenröte. Diese fürchten, so die Theorie, dass sie bei einem Outing als Wähler der Partei ebenso wie diese ins Visier der Fahnder gelangen könnten.

Noch vor den Wahlen müssen sämtliche Parlamentarier der Partei zum Untersuchungsrichter. Es gilt als sicher, dass es der Regierung wichtig ist, die meisten von ihnen hinter schwedische Gardinen zu schicken.

Für wen es doch noch Geld gibt…

Mitten in diesem Chaos versuchen die Politiker verzweifelt, ihre Wähler doch noch gütlich zu stimmen. Für die Angestellten des Parlaments gab es einen Bonus von 1,35 Millionen Euro aus der Staatskasse. Bekanntlich erlangte die Überzahl von ihnen den begehrten Staatsposten über die jeweils unterstützte Partei.

Monastirakiplatz nahe der Akropolis - viel Betrieb, wenig Umsatz. Foto: Wassilis Aswestopoulos

Die weiterhin Einkommensteuerfrei lebenden Reeder des Landes bekommen zwar kein Geld von ihren Parteien. Dafür aber können sie ungestraft Millionensummen schulden. Auf 101.065.652,15 Euro wird die Summe beziffert, welche von den Reedern an Sozialversicherungsabgaben geschuldet wird. Gleichzeitig müssen Mittelständler mit mehr als 1.000 Euro Schulden beim Staat oder Sozialversicherungen Kontenpfändungen und Festnahmen fürchten. Aufgeflogen ist das erst durch eine parlamentarische Anfrage der Opposition.

Dass die Reeder auch notorisch ihre Angestellten lieber nicht bezahlen, ist ein Detail, was eher indirekt den Staatsetat belastet.

Dass die Reeder aber trotz gegenteiligem Versprechen und obwohl die Regierung Samaras dies als ihren Erfolg feierte, 400 Millionen Euro Steuern nicht zahlen, das wiegt schon schwerer. Die Reeder hatten sich zu dieser Zahlung selbst verpflichtet, nachdem ob ihrer Steuerfreiheit der Aufschrei aus dem In- und Ausland zu groß wurde.

Gibt es den Primärüberschuss?

Bei all diesen Zahlenspielen und verschwindenden Millionen sind Zweifel am Primärüberschuss der Griechen durchaus berechtigt. Hans Werner Sinn vom Ifo Institut vermutet Schönrechnerei. Sein griechischer Kollege, Professor Yanis Varoufakis, wird da schon konkreter.

Für ihn ist Griechenland nach vier Jahren chaotischer Politik schlicht bankrotter als je zuvor. In seinem Blog rechnet der Gastprofessor der Universität Texas vor, wo der Primärüberschuss wirklich herkommt.

Das Schema ist bekannt, es wurde unter "Greek Statistics" vor vier Jahren zum Slogan. Die griechischen Finanzfüchse haben gemeinsam mit ihren Kollegen der Eurostat Schulden der griechischen Kommunen von 700 Millionen Euro und der staatlichen Sozialversicherer von 4,7 Milliarden Euro schlicht zu "weißen Löchern" erklärt - also weggelassen. Die 5,4 Milliarden Euro Schulden existieren, sie werden aber bei der Berechnung des Haushalts schlicht weggelassen.

Varoufakis ging sogar noch einen Schritt weiter. Er enthüllte, dass bei der ersten Aufdeckung der Greek Statistics vor wenigen Jahren ausgerechnet der Mann federführend mit beteiligt war, der sie nun selbst wieder anwendet, Finanzminister Yannis Stournaras.