Sind die russischen Truppen abgezogen oder nicht?

Kiew entgleitet die Kontrolle in der Ostukraine weiter

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Wie so oft herrscht der "Nebel des Kriegs". Gestern hatte nach Angaben des russischen Außenministeriums Minister Sergei Shoigu in einem Gespräch mit US-Verteidigungsminister Chuck Hagel erklärt, es gebe keine russischen Sabotage- oder Aufklärungseinheiten in der Ukraine, die das Land angeblich destabilisieren würden. Das hatte ihm Hagel vorgeworfen, Shogigu bezeichnet dies als "haltlose Vorwürfe" und forderte rhetorische Zurückhaltung.

Zudem soll Shoigu gesagt haben, dass man die Manöver an der Grenze eingestellt habe, nachdem Kiew versprochen habe, die "massive" Militärpräsenz in der Ostukraine – die russische Seite spricht von 15.000 Soldaten, 80 Panzern, 130 Schützenpanzern und mindestens 60 Artilleriegeschütze – nicht gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen. Die Möglichkeit, dass Kiew Zivilisten militärisch angreifen könnte, habe Moskau veranlasst, die Übungen einzuleiten. Jetzt seien die Truppenverbände wieder an ihren Stützpunkten. Shoigu hat sich auch über die "beispiellose" Präsenz von Nato-Truppen an der Grenze Russlands beschwert und dies als Provokation bezeichnet, was aber Hagel von sich gewiesen habe. Die in den westlichen Medien gepflegte "antirussische Hysterie" würde auch nicht helfen, die Emotionen zu bändigen, meinte Shoigu, als ob das Pentagon Einfluss auf die Medien hätte.

Interessanterweise taucht all dies in der Darstellung des Gesprächs vom Pentagon nicht auf. Dort wird hervorgehoben, Shoigu habe erklärt, es bestünde keine Absicht in die Ukraine einzumarschieren. Dafür wird berichtet, Hagel habe seinen russischen Kollegen gebeten, die Freilassung der in Slawjansk gefangenen Militärbeobachter zu unterstützen, wovon wiederum nichts auf der russischen Seite zu lesen ist.

Heute berichtete ein Sprecher der Nato, man habe keine Anzeichen gesehen, dass sich die russischen Truppen von der Grenze auf ihre Stützpunkte zurückgezogen hätten. Zuvor hatte bereits das ukrainische Außenministerium erklärt, dass es keine Beweise dafür gebe. Man warte auf die "offiziellen Informationen der Geheimdienste".

Inzwischen setzte Ponomarjow, der als Bürgermeister von Slawjansk auftritt, die Hürden für eine Freilassung der Militärbeobachter höher. Hatte er zuerst erklärt, die "Gäste" würden gegen inhaftierte Separatisten ausgetauscht, so verlangt er nun, dass die EU die Sanktionen gegenüber den beiden Anführern der Aufständischen, Igor Strelkow und den Chef der "Republik Donezk", Andrej Purgin, beendet. Insgesamt sollen 40 Geiseln in der Hand der Aufständischen von Slawjansk sein.

Am 25. April haben ukrainische Sicherheitzskräfte den stellvertretenden Bürgermeister von Slawjansk, Igor Perepechayenko, festgenommen, als er von Russland in die Ukraine einreisen wollte. Der Geheimdienst SBU veröffentlichte ein Video, auf dem Perepechayenko bei einer Vernehmung zu hören ist. Ob das Geständnis freiwillig erfolgte, dürfte Ansichtssache sein. Er erklärt, für ein Fernsehinterview nach Moskau gereist zu sein und dort vom russischen Geheimdienst Anweisungen erhalten zu haben. Er soll 19.000 US-Dollar und verschlüsselte Telefone bekommen haben.

Generalstaatsanwalt Oleg Makhnitsky von der rechten Swoboda-Partei sagte der Financial Times, Janukowitsch habe bei seiner Flucht 32 Milliarden US-Dollar an Bargeld mitgenommen, womit er nun die Aufständischen in der Ostukraine finanziere. Das scheint nun doch ein wenig übertrieben zu sein.

Während die von der ukrainischen Regierung mobilisierte Antiterroroperation offenbar keine Fortschritte macht, verliert sie immer weiter an Kontrolle. Gestern wurde der Bürgermeister von Charkow, Gennadi Kernes, beim Radfahren angeschossen und schwer verletzt. Wer die Tat begangen hat, ist nicht bekannt. Kernes gehört der Partei der Regionen an und soll ein Freund von Janukowitsch gewesen sein. Er soll auch Demonstranten nach Kiew geschickt haben, um gegen den Maidan für die Regierung zu demonstrieren. Zuletzt soll er der Maidan-Bewegung offener gegenüber gestanden haben (wie das auch andere Abgeordnete der Partei der Regionen gemacht haben, als sie sahen, dass die Macht sich verschiebt) und für einen Erhalt der Ukraine eingetreten sein. Sein Freund, der Ex-Gouverneur von Charkow, der Präsidentschaftskandidat der Partei der Regionen ist, zu Hausarrest wegen Sezessionismus bis zu einem Prozess verurteilt und kürzlich in Kiew tätlich angegriffen wurde, sieht hinter dem Mordanschlag die Absicht, die Situation in der Stadt zu destabilisieren. Er streut Anschuldigungen, dass womöglich das ukrainische Innenministerium dafür verantwortlich sein könnte.

In Luhansk haben Hunderte von Aktivisten das Regierungsgebäude besetzt. Die Polizei sah, wie so oft, zu. Selbst der ukrainische Geheimdienst SBU hatte kürzlich erklärt, dass die Menschen oft mit den Militanten sympathisieren oder diese sogar unterstützen würden, was auch für die lokalen Sicherheitskräfte und Staatsangestellten gelte. Die Aufständischen waren mit Schilden, Baseballschlägern und ähnlichem ausgerüstet und sollen von den Polizisten die Übergabe von Waffen verlangt haben. In Berichten ist auch von Bewaffneten die Rede. Später wurden noch das Gebäude der Staatsanwaltschaft eingenommen und der lokale Fernsehsender. Auch das Geheimdienstgebäude ist besetzt. Die Besetzer sagen, sie würden das Gebäude verlassen, wenn sie einen Kandidaten als Gouverneur nennen können. Auch in Pervomaysk, in der Nähe von Luhansk, wurde das Rathaus besetzt. Präsident Turtschinow bezeichnete derweil die Polizisten im Osten als "Verräter", weil sie sich untätig verhielten: "Die große Mehrheit der Sicherheitskräfte im Osten ist nicht in der Lage, ihre Pflicht zu erfüllen und unsere Bürger zu schützen"

Gestern war es in Donetzk zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen, als eine Bande von prorussischen vermummten Militanten mit brutaler Gewalt eine proukrainische Demonstration angriff. Es soll Dutzende Verletzte gegeben haben. Die Polizei griff nicht ein, obgleich ein massives Aufgebot vor Ort war.