Freiheit für das Imperium?

Zwei Deutungen kursieren derzeit, um den Konflikt in der Ukraine zu erklären. Sie widersprechen sich - und haben beide viele Anhänger. Ein Vergleich

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Die Meinungsschlacht hierzulande um richtig oder falsch in der Ukraine wird zum Grabenkampf. Die Argumente scheinen ausgetauscht, der Tonfall wird rauer. Man distanziert sich voneinander und wirft sich gegenseitig mangelnden Realismus vor. Anhänger der beiden Deutungen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Doch worum geht es im Kern?

Version 1: Wir unterstützen die Freiheit

Die erste Version ließe sich so beschreiben: Die Europäische Union hat der Ukraine eine engere Partnerschaft angeboten, die sogenannte Assoziierung Viele Ukrainer sind dafür und demonstrieren gegen ihren korrupten Präsidenten, nachdem der das entsprechende Abkommen mit der EU hat platzen lassen. Als sie ihren Präsidenten gestürzt haben, nutzt dessen Verbündeter Putin das Machtvakuum und annektiert die Krim. Außerdem destabilisiert Russland den Osten der Ukraine, um die neue Regierung zu schwächen.

Putin will zurück zu alter russischer Größe und zündelt gegen den Westen, obwohl dieser lediglich eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Ukraine anstrebt. Dass der Osten des Landes sich nicht beruhigt, ist Beweis für Putins Subversion und Uneinsichtigkeit. Er muss nun mit Sanktionen zur Räson gebracht werden und akzeptieren, dass die Ukraine näher an den Westen rückt. Denn dies ist der freiheitliche Willen des ukrainischen Volkes.

Version 2: Wir erzwingen das Recht des Imperiums

Die andere Version klingt etwa so: Die USA verfolgen seit mehr als zehn Jahren den strategischen Plan, die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands zu lösen. Ein erster Versuch dazu war die Orangene Revolution von 2004, die zu einer prowestlichen Regierung führte, welche allerdings keine dauerhafte Akzeptanz im Volk gewinnen konnte und wieder abgewählt wurde. Über Stiftungen und Verbände wurden seither mehrere Milliarden Dollar ins Land gepumpt, um eine prowestliche politische Struktur in der Ukraine aufzubauen.

Die Demonstrationen in Kiew waren zum großen Teil authentischer Volksprotest. Der Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten im Februar 2014 gelang dennoch nur mit Hilfe rechtsradikaler bewaffneter Milizen. Die so ins Amt geputschte neue Regierung hat aber so gut wie keinen Rückhalt im Osten des Landes, wo sich seither immer stärkerer und auch bewaffneter Widerstand regt. Den USA kommt all das nicht ungelegen, da die Ukraine als brodelnder Konfliktherd eine Partnerschaft der EU mit Russland - beides Konkurrenten Amerikas - verhindert.

Analyse: Wer spielt hier mit wem?

Die westlichen Regierungen und Leitmedien haben sich in ihrer Bewertung der Lage weitgehend auf Version 1 geeinigt. Bei dieser fällt zunächst einmal auf, dass sie den historischen und geopolitischen Kontext der Situation - sowie die Rolle der USA - nahezu komplett außen vor lässt. Version 1 beginnt zeitlich mit dem Scheitern des Assoziierungsabkommen und handelt im Grunde nur von der Ukraine und der EU.

Dass die USA sich in der Ukraine dennoch so massiv - und auch schon so lange - einmischen, kann in Version 1 eigentlich nur mit einer pauschalen Freiheitsliebe Amerikas erklärt werden. Da dieses Erklärmodell aber nach den Kriegsresultaten in Afghanistan, Irak, Libyen etc. wenig überzeugend erscheint, rüstet man - mangels weiterer Alternativen - rhetorisch auf und erklärt Putins Russland, mit Verweis auf die Krim, zum drohenden Aggressor, den es zu bändigen gelte.

Ist dieser Gedanke erfolgreich vermittelt - was unter anderem erfordert, die Volksabstimmung auf der Krim als illegitim zu bewerten -, kann man im Anschluss Deutschlands Westbindung betonen. Und so ist es auch im (nun in alter Tradition wieder anonym verfassten) Leitartikel der aktuellen Printausgabe des SPIEGEL zu lesen. Nach dem eher beiläufig vorgetragenen Hinweis, dass Putin ein Mann sei, "der den Frieden in Europa bedroht", heißt es dort:

Doch bei aller Sympathie für Russen, bei allem Verständnis für deren Interessen, Deutschland gehört zum Westen, zu den anderen Demokratien, auch wenn es manchmal schwierig ist, Positionen der USA auszuhalten. Schutz und politisch-kulturelle Zugehörigkeit finden wir nur bei den Partnern in der Nato und der Europäischen Union. Ein Sonderweg würde Deutschland Russland ausliefern (…).

Diese Passage ist nicht bloß politisch, sie vermittelt auch einen psychologischen Subtext. Deutschland benötigt demnach "Schutz" und "Zugehörigkeit", fast wie ein Kind, jedenfalls kein völlig selbstbestimmtes Subjekt. Bemerkenswert ist, wie das Fehlen eigener Souveränität hier quasi zum Identitätsbestandteil wird - die Unreife sich somit zum Charakterzug auswächst.

Angriff auf das eigene Volk

Auch dieser SPIEGEL-Leitartikel präsentiert eine "Version 1"-Variante, insofern er die Rolle und Interessen der USA völlig außen vor lässt, mit Ausnahme eben ihrer Rolle als legitime (und ausschließliche) Führungsmacht Deutschlands. Aber auch andere Aspekte des Konflikts kommen nicht vor - zum Beispiel der militärische Angriff der Kiewer Regierung auf das eigene Volk, in Slawjansk und anderswo, gestartet unmittelbar nach der dringenden Mahnung des Internationalen Währungsfonds, dass eine finanzielle Unterstützung der Ukraine ohne eine Kontrolle Kiews über die östlichen Landesteile wesentlich teurer werde (Ukraine: IWF droht Kiew mit Kürzung der Kredite).

Üblicherweise ist ein solcher "Angriff auf das eigene Volk" für den Westen ein ultimativer Interventionsgrund, zumindest aber Anlass für lautstarke Appelle und UNO-Resolutionen. Nicht so in diesem Fall. Die Rollen sind eben vertauscht und nichts fügt sich mehr, wie es gewohnt ist. Inzwischen berichtet sogar die FAZ, dass die Regierung in Kiew von "Dutzenden Spezialisten des amerikanischen Geheimdienstes CIA" bei der Aufstandsbekämpfung im Osten unterstützt würde - ohne dass diese Meldung besondere Aufregung hervorrufen würde.

Umgekehrt findet selbst die New York Times vor Ort in Slawjansk keine russischen Strippenzieher sondern nur ganz normale Bürger, die zu den Waffen greifen, um ihre Stadt gegen Kiews Militär (und dessen Freunde) zu verteidigen. Zudem, so die Zeitung, verfolgten diese Bürger keineswegs einheitlich das Ziel, sich von der Ukraine abzuspalten - was deren Definition als "Separatisten" in Frage stellt.

Wer expandiert?

Version 1 der Ukraine-Konfliktdeutung enthält als argumentativen Kern die Unterstellung, Russland wolle expandieren und müsse daher gestoppt werden. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Aussage - die in Deutschland nahtlos an die Sichtweise der 1940er Jahre anknüpft (und damit an tiefverwurzelte Erfahrungen und Ängste der eigenen Eltern und Großeltern) - bleibt die Dynamik des eigenen Machtblocks weitgehend unreflektiert.

Dabei gibt es eigentlich nur wenig Interpretationsspielraum über die Tatsache, dass real der Westen expandiert und ein Land nach dem anderen in seine Sphäre aufnimmt. Mal einvernehmlich, wie bei der NATO-Osterweiterung, mal kriegerisch (und erfolglos) wie in Afghanistan oder dem Irak. Auch in diesem Sinne sieht Version 2 in den USA letztlich ein Imperium - eine Interpretation, die in den Leitmedien aber in der Regel weder erwogen, noch diskutiert wird. Nun also die Ukraine. Doch warum? Und weshalb die unglaubliche Eile?

In Kiew hätte 2015 eine reguläre Präsidentschaftswahl angestanden. Angesichts der Proteste im Land wäre ein geordneter Machtwechsel wahrscheinlich gewesen. Offenbar hatte der Westen, hatten die USA diese Zeit nicht. Es musste sofort geschehen. Auch das irritiert und lenkt den Blick auf den finanziellen Abgrund, vor dem eine global überschuldete Ökonomie weiterhin steht.

Abseits von allen rhetorischen Scharmützeln bleibt somit der tiefe Widerspruch zwischen den beiden Deutungen des Konflikts bestehen. Schützt der Westen nun die Freiheit - oder nur die Freiheit des Imperiums, das ohne konstantes Wachstum zu kollabieren droht?