Kein Ende der Geschichte

Nähern wir uns Oligarchie und Tyrannis?

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Im Sommer 1989 erschien in der amerikanischen Zeitschrift "The National Interest" ein Beitrag des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, der weltweit für großes Aufsehen sorgte und kontrovers diskutiert wurde. "Das Ende der Geschichte" lautete der Titel dieses Essays, in welchem der Autor das Debakel der sozialistischen Utopie (in diesem Fall der realsozialistischen sowjetischer Prägung) analysierte und zu dem Schluss kam, dass mit dem Erfolg der liberalen Ordnung die denkbaren ideologischen Alternativen erschöpft und der evolutionäre Prozess der Gesellschaftsform zum Abschluss gekommen sei.

Weltweit würden sich deshalb die Demokratie und die Marktwirtschaft westlich-liberaler Prägung durchsetzen, so Fukuyama unter Berufung auf den auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojeve, der sich wiederum auf Hegels Phänomenologie des Geistes stützte.

In einem drei Jahre später erschienenem Buch mit dem gleichen Titel, argumentierte Fukuyama ausführlicher, breiter und auch umsichtiger. Im Gegensatz zu Karl Popper (der seine These von der "Offenen Gesellschaft" mit dem Hinweis zu garnieren pflegte, er habe "keine Ahnung, was die offene Gesellschaft eigentlich ist", sondern wisse lediglich, "was sie nicht ist") wusste Fukuyama anscheinend ganz genau, was man sich unter seinem Ende der Geschichte vorzustellen hatte.

Der Fall der Berliner Mauer, der Zusammenbruch der realsozialistischen Staatenwelt und schließlich die Auflösung der Sowjetunion selbst schienen Fukuyama in den Jahren 1989-1991 zu bestätigen. Allerdings war es von Anfang an erstaunlich, dass dieser Autor den Zusammenbruch der einen Geschichtsphilosophie pauschal mit einer anderen beantwortete - also quasi die marxistische These von der Gesetzmäßigkeit der Geschichte mit anderen Vorzeichen instrumentalisierte.

Francis Fukuyama war mit seiner These nicht alleine: Schon im Jahr 1961, 28 Jahre vor Fukuyamas Essay, schrieb der rechtsgerichtete deutsche Philosoph Arnold Gehlen einen Aufsatz mit dem Titel "Kein Ende der Geschichte". Die Epoche der großen diesseitigen Gestaltungsideologien, die im Jahr 1789 begann, sei wahrscheinlich abgeschlossen, postulierte Gehlen.

Weiter heißt es bei ihm:

Die bis heute durchgesetzten Ideologien, die kommunistische dort, die sozialliberal-demokratische hier, haben keine neu auftretenden Rivalen zu befürchten, wir haben auf lange hinaus mit der Endgültigkeit dieser Systeme zu rechnen - Weltkatastrophen vorbehalten.

Gehlen vertrat seine These im Jahr des Mauerbaus, Fukuyama im Jahr des Mauerfalls. Beide waren natürlich von den weltpolitischen Ereignissen ihrer Zeit tangiert, wahrscheinlich auch geblendet.

Fukuyama sah nicht voraus, welche Dynamik und Gefahr die Wiedergeburt der Religion als politischer Machtfaktor beinhaltete, auch nicht etwa den phänomenalen Aufstieg der Volksrepublik China, flankiert von einem auf konfuzianischen Werten basierendem politischem Credo, welches als Gegenmodell zur westlichen Demokratie initiiert wird.

Auch die Gefährdungen der westlichen Gesellschaften durch Abbau von Bürgerrechten, den massiven Einfluss von Lobbygruppen auf demokratische Entscheidungsträger, die Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit, die Verwirrung der Begriffe, den Verlust von Sinn -und Wirklichkeitsbezügen in der multimedialen Kommunikationsgesellschaft und die Attraktivität des Populismus wurden von Fukuyama erst viel später erkannt.

Schon in der Antike wurden politische Herrschaftsformen als unablässiger, nahezu gesetzmäßiger Kreislauf beschrieben, der niemals ruht: Er führt von der Demokratie zur Oligarchie und von dort hin zur Tyrannis, bis mit dem Sturz des Alleinherrschers die Bewegung wieder von vorne beginnt.

Francis Fukuyama. Foto: Robert Goddyn. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Auch in unserem multimedialen Internetzeitalter kann der Zeitpunkt kommen, wo die Bewohner liberaler Gemeinwesen die Vorzüge dieses Systems geringer schätzen als vorangegangene Generationen und das Verlangen nach dem Absoluten, nach Spiritualität, nach Risiken und Gefahren, nach charismatischen Führern wieder überhand nimmt, wie schon oft in der Geschichte der Menschheit.

Vielleicht ist er sogar schon eingetreten. Die abnehmende Begeisterung für die Institutionen der EU in ihrer aktuellen Verfasstheit, die daraus resultierenden Wahlergebnisse und der Aufstieg von Parteien und Ideen, die man in Europa schon als überwunden geglaubt hat, deuten in diese Richtung.

Kolonialismus mit den Pauschalbegriffen "Menschenrechte und "Parlamentarische Demokratie"

Ein Vierteljahrhundert später hat Francis Fukuyama sich deutlich von seinen 1989 formulierten Thesen distanziert (Imperialismus als Farce).

Seine damalige Fehldiagnose war allerdings auf fruchtbaren Boden gefallen, inspirierte die neokonservative Bewegung in den USA und auch so manche Splittergruppen und Think Tanks in anderen Teilen der Welt. Spätestens mit dem Amtsantritt von George W. Bush hatte sich Fukuyama von diesem Milieu abgewandt und warnte in den vergangenen Jahren vor dem populistischen Zorn der amerikanischen Provinz und dem Verblassen des Mythos vom "American Dream" ausgerechnet durch den Prozess der Globalisierung.

Heute geht es um nichts weiter als um die Überprüfung der Pauschalbegriffe "Menschenrechte und "Parlamentarische Demokratie".

Die selektive Einforderung dieser Prinzipien, die bei einer Übertragung in nichtwestliche Gesellschaften (flankiert von wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen) durchaus zu einem grotesken Zerrbild verkommen kann, wird nicht ganz zu Unrecht als eine neue Form des Kolonialismus kritisiert - auch deshalb, weil man im Westen bei einigen seiner engsten Verbündeten ganz darauf verzichtet.

Auf diese Grundwerte sollte in den westlichen Gesellschaften niemand verzichten, doch sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob die repräsentative Demokratie, eine Erfindung des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, nicht ihre Glanzzeit - selbst in Europa und Amerika - hinter sich hat? Besonders seit die Omnipräsenz der virtuellen Welt bei der Meinungs- und Informationsvermittlung auch in der Medienwelt eine betrübliche Nivellierung zur Folge hat.

Durch diese kollektive Stimmungsmache, die unsere gewählten Volksvertreter mehr fürchten als die schwankende Gesinnung ihrer Wähler, könnte der klassische Parlamentarismus eines Tages zu Grunde gehen oder zum Formalismus erstarren.

Immerhin besteht heute ein System der totalen Transparenz. Zwar nicht der Institutionen (was ja wünschenswert wäre), sondern eher der Bürger - dafür aber in einem Ausmaß, wie sie die düsteren Visionen George Orwells in seinem Buch 1984 weit übertreffen.

Die enthemmte Dynamik unseres Zeitalters, die rasant beschleunigten historischen Entwicklungen, hat der renommierte britische Historiker Niall Ferguson wie folgt hinterfragt:

Was wäre, wenn die Geschichte gar nicht zyklisch und langsam, sondern arhythmisch verliefe, manchmal fast stillstände, dann aber wieder zu dramatischen Beschleunigungen fähig wäre? Was wäre, wenn die historische Zeit weniger dem langsamen und vorhersehbaren Wechsel der Jahreszeiten entspräche, sondern eher wie die elastische Zeit unserer Träume abliefe? Vor allem aber, was wäre, wenn sich der endgültige Zusammenbruch nicht über Jahrhunderte hinziehen würde, sondern eine Zivilisation plötzlich wie ein Dieb in der Nacht überfiele …?

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