"Es gibt nur eine begründete Angst: Todesangst"

Heiner Geißler über Flüchtlinge in Deutschland, das Geschäft mit der Angst sowie Europas Afrika-Politik

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Heiner Geißler war von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU. Er kämpft seit jeher für eine soziale Ausrichtung der Union und gilt nicht nur parteiintern als hartnäckig und streitbar. Im Gespräch erklärt der 84-Jährige, warum der Kapitalismus am Ende ist, wie Europa mit afrikanischen Flüchtlingen umgehen sollte - und weshalb ihn Angstparolen aufregen. Das Gespräch wurde anlässlich des Weltflüchtlingstages geführt.

Flüchtlinge aus Afrika erreichen Lampedusa. Bild: Kate Thomas/IRIN

Herr Dr. Geißler, was denken Sie, wenn Sie Fernsehbeiträge sehen, in denen afrikanische Flüchtlinge über sieben Meter hohe und mit Stacheldraht befestige Grenzanlagen klettern?

Heiner Geißler: In solchen Momenten spüre ich Wut und Entsetzen. Ich bin wütend darüber, dass Europa offensichtlich nicht in der Lage ist, die Situation zu verbessern.

Sind wir Europäer in diesem Punkt feige?

Heiner Geißler: "Feige" ist kein treffender Ausdruck, sie sind konzeptionslos und zu wenig solidarisch. Immer wieder rücken egoistische Ziele in den Vordergrund und stehen so einer großen Lösung im Weg.

In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind etwa 43.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien geflohen, so viele wie im gesamten Jahr 2013. Erkennen Sie in der EU einen Wetteifer um die richtigen Konzepte?

Heiner Geißler: Das könnte sich ändern, wenn die neue Führung der EU-Kommission andere Prioritäten setzt.

Halten Sie das etwa für wahrscheinlich?

Heiner Geißler: Es ist jedenfalls möglich. Notwendig ist ein kombiniertes Konzept. Wir können das Flüchtlingsproblem nicht auf den Sozialämtern in Ludwigshafen oder Hamburg lösen, erst recht nicht auf denen in Bologna oder Neapel. In diesem Punkt haben die Nationalisten ausnahmsweise sogar recht.

Wie meinen Sie das?

Heiner Geißler: Selbstverständlich müssen wir Flüchtlinge human behandeln, allerdings muss uns klar sein, dass wir es mit einem ökonomischen Problem zu tun haben. Die Leute verlassen ihre Heimat nicht aus Jux und Tollerei, die meisten machen sich aus purer Not auf den Weg zu uns. Diejenigen, die ihr Leben riskieren, um hierher zu kommen, wollen das Leid ihrer Familien lindern, sie wollen eine echte Chance. Und was machen wir? Wir bauen immer höhere Zäune. Die westlichen Demokratien könnten das finanzielle Problem in Afrika ohne Weiteres lösen.

"Auf der Welt gibt es Geld wie Heu, aber es fließt in die falsche Richtung"

Ohne Weiteres? Mit Verlaub, da würde Ihnen jetzt so mancher EU-Politiker heftig widersprechen.

Heiner Geißler: Die Europäer und die Amerikaner müssen zum Beispiel jenes Vorhaben umsetzen, auf das sie sich überwiegend verständigt hatten: eine internationale Finanztransaktionssteuer. Auch Finanzinstitute, die weltweit im Sekundentakt Geld umsetzen, müssen Umsatzsteuer bezahlen. Wer wild auf den Weltmärkten spekuliert, ist weder arm, noch steht er über der Gesellschaft. Wie will man einem Bürger, der auf jeden Kleinkram Umsatzsteuer bezahlen muss, vermitteln, dass die Finanzindustrie sich mit keinem Cent an der Finanzierung der globalen Aufgaben beteiligen muss?

Zumindest in Teilen Europas soll eine solche Steuer Anfang 2016 eingeführt werden.

Heiner Geißler: Würde die Finanztransaktionssteuer weltweit eingeführt, könnte man damit die Armut in Afrika in relativ kurzer Zeit halbieren - sie brächte bei einem Umfang von nur 0,05 Prozent jährlich über 300 Milliarden Dollar ein. Tatsache ist: Auf der Welt gibt es Geld wie Heu, aber wir verwenden es für die falschen Zwecke und es fließt in die falsche Richtung.

Und wie sollte verhindert werden, dass - wie mehrfach geschehen - Milliarden fehlinvestiert werden, weil das Geld beispielsweise in die Taschen korrupter Politiker fließt?

Heiner Geißler: Derlei sollte nicht bilaterial gehändelt werden, sondern es müsste sich um eine globale Finanzierung handeln, und zwar in der Verantwortung der UNO.

Mit einer Finanztransaktionssteuer allein würde man die Probleme wohl nicht lösen...

Heiner Geißler: Daher brauchen wir auch Reformen der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Die internationale Finanzstruktur muss dringend reformiert werden. Aber auch darauf hat man sich im Grunde genommen bereits geeinigt. An entsprechenden Treffen haben nicht nur die Europäer teilgenommen, sondern auch die Vereinigten Staaten und sogar China. Kurz: In Edinburgh beschlossen, in Pittsburgh (G-20-Gipfel 2009. d. Red.) noch mal bestätigt. Und seitdem ist nicht viel geschehen.