Vor der nächsten Intifada?

Die Ausschreitungen gehen weiter, Netanjahu fordert unter dem Druck der Rechten zur Zurückhaltung auf

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Die israelische Polizei hat sechs Verdächtige festgenommen, die für den Tod des 16jährigen arabischen Jugendlichen verantwortlich sein sollen, dessen Leiche Mitte vergangener Woche in einem Wald in West-Jerusalem gefunden wurde. Die Ermittler gehen mittlerweile "mit großer Wahrscheinlichkeit" davon aus, dass die Tat nationalistische Motive hatte (Haben israelische Ultra-Rechte einen arabischen Jugendlichen ermordet?). Auch im Fall der drei ermordeten israelischen Jugendlichen wurde ein Verdächtiger gefangen genommen. Die Ausschreitungen gehen derweil weiter, und sind nun nicht mehr auf Ost-Jerusalem beschränkt: Auch in arabischen Kommunen in Nord-Israel liefern sich Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Verstärkt werden die Aggressionen durch Vorwürfe von Polizei-Gewalt: Ein 15jähriger Cousin des ermordeten Jugendlichen soll im Polizeigewahrsam misshandelt worden sein; die Polizei bestreitet das allerdings. Vom Gazastreifen aus werden indes weiter Raketen auf Israel abgefeuert; Verhandlungen über einen Waffenstillstand scheinen vorerst gescheitert.

Bild: Israelische Polizei

Es ist ein Konflikt, in dem sich beide Seiten nichts schenken: Einige der Demonstranten, die in Teilen Ost-Jerusalems auf die Straße gehen, haben Molotow-Cocktails und Steine mitgebracht. Die Polizisten, in voller Kampfmontur, bringen ihrerseits Tränengas und Gummigeschosse mit.

Eigentlich war die Strategie der israelischen Polizei in den vergangenen Jahren gewesen, in kritischen Momenten massiv präsent zu sein, diese Präsenz aber nicht offen zu zeigen, um damit keine Angriffsflächen zu bieten. Es ist eine Herangehensweise, von der man sich im Ministerium für innere Sicherheit sicher ist, dass sie sich bewährt hat: Schwere Ausschreitungen waren in den vergangenen Jahren auch dann selten, wenn es wirklich brenzlig wurde. Denn bei solchen Krawallen sind die Polizisten, meist die einzigen Repräsentanten Israels vor Ort, mehr Gegner als Sicherheitskräfte.

An unseren Einsatzkräften entladen sich die Aggressionen. Im Grunde sind sie vor Ort, um einen Kampf auszufechten, der ohne sie nicht stattfinden würde, und den sie immer verlieren, weil der Mensch in israelischer Uniform immer schlechter aussieht als der Mann mit Palästinensertuch. Es macht also Sinn, die Polizeikräfte konzentriert dann einzusetzen, wenn Zivilisten gefährdet sind, und sie ansonsten zurück zu halten.

Dudi Cohen, der bis 2011 Polizeichef war.

Von dieser Strategie wird in diesen Tagen abgewichen: Nicht mehr nur in Ost-Jerusalem, sondern auch im Norden Israels, Heimat für einen Großteil des arabischen Bevölkerungsteils, kommt es in diesen Tagen immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen zwischen arabischen Demonstranten und Polizisten. Die genaue Zahl der Verletzten ist unbekannt: Die beiden Pendants zum Roten Kreuz, der Rote Davidstern und der Rote Halbmond, schätzen die Zahl der Opfer auf mindestens 400, die meisten davon sind Araber.

Grund für den Strategiewechsel ist, dass Cohens Nachfolger Yohanan Danino zur Zeit nahezu handlungsunfähig ist: Die Polizeiführung steckt mitten in einem Korruptionsskandal fest. Zudem ist der politische Druck extrem. Vor allem die rechten Koalitionspartner von Regierungschef Benjamin Netanjahu fordern Härte (Israel: Netanjahus Koalitionspartner fordern Einmarsch in Gaza). Doch der hat schon alle Hände voll damit zu tun, die Forderungen seines Außenministers Avigdor Liebermann von der rechtspopulistischen Jisrael Beitenu und von Handelsminister Naftali Bennett von der rechten "Jüdisches Heim" nach einem groß angelegten Militäreinsatz im Gazastreifen abzuwehren. Von dort aus werden nach wie vor tagtäglich Raketen auf Israel abgeschossen. Nach dem Mord an dem arabischen Jugendlichen verstärkte sich der Beschuss.

Hatte Netanjahu noch während der Wochen langen Suche nach den drei israelischen Jugendlichen im Westjordanland ein hartes Vorgehen gegen die Hamas, die er bereits sehr frühzeitig verantwortlich gemacht hatte, angekündigt, stellt er sich mittlerweile auf den Standpunkt derjenigen, die Zurückhaltung fordern.

Die Polizisten in voller Kampfmontur mit Tränengas und Gummigeschossen. Bild: Israelische Polizei

Neue Sicht aus Israel auf die Hamas in Gaza

Dazu gehört beispielsweise auch der ehemalige Mossad-Chef Ephraim HaLevy, der in der Zeitung Jedioth Ahronoth die Ansicht vertritt, die Hamas sei in Gaza vorzuziehen, und daran erinnert, dass Khaled Maschal, Chef des Politbüros der Hamas, in der vergangenen Woche betont habe, dass man Interesse daran habe, die mit Israel in der Vergangenheit geschlossenen Vereinbarungen beizubehalten: "Das Herz sagt: 'Nie'; aber was sagt der Verstand?"

Auf ägyptische Vermittlung hin wurde in den vergangenen Tagen über einen Waffenstillstand verhandelt. Doch die Verhandlungen gestalteten sich schwierig. Denn die Sicherheitskräfte im Gazastreifen bemühen sich bereits, den Raketenbeschuss zu unterbinden. Die Einheiten wurden allerdings erst vor einigen Wochen aus der ehemaligen Hamas-Polizei und von außerhalb stammenden Einsatzkräften der einstigen Fatah-Regierung in Ramallah gebildet, und sind noch nicht voll einsatzfähig.

Zudem haben sowohl die Einheitsregierung in Ramallah als auch die örtliche Hamas-Führung die Befürchtung, dass ein zu massives Vorgehen gegen die Urheber des Raketenbeschusses in dieser emotional extrem aufgeladenen Atmosphäre die Einsatzkräfte selbst zum Ziel machen könnte. Also hofft man vor allem auf eine politische Einigung, für die allerdings in diesem Fall das von Maschal geführte Politbüro der Hamas zuständig ist.

Die Essedin al-Kassam-Brigaden, die hauptsächlich für den Beschuss verantwortlich sind, fühlen sich vor allem dem im Ausland ansässigen Politbüro verpflichtet. Das aber wiederum hat ebenfalls ein Problem: Die Kassam-Brigaden sind der einzige Einflussfaktor des Politbüros in Gaza, denn Politbüro und Gaza-Hamas hegen nicht unbedingt große Zuneigung für einander. Die Gaza-Hamas musste im Laufe der vergangenen Jahre notgedrungen pragmatisch werden, weil es ein zwar kleines, aber sehr stark bevölkertes Gebiet zu regieren galt: Um die Sache am Laufen zu halten, mussten Außenbeziehungen gepflegt, Kompromisse eingegangen und Positionen ständig auf den Prüfstand gestellt werden. Das hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe dieser Positionen und Kompromisse im Widerspruch zu den Ansichten des Politbüros stehen.

Dementsprechend wird in diesen Tagen in Jerusalem wie in Tel Aviv, wo das Verteidigungsministerium ist, gemahnt, man müsse die Gaza-Hamas als politische Kraft stärken, und gleichzeitig die Kassam-Brigaden schwächen, um den Einfluss der Hamas-Ideologen zu schwächen.

Auf beiden Seiten ist die Wut groß

Doch für die Rechte ist das nicht genug, was wiederum der Grund dafür ist, dass auch Netanjahu in Sachen Waffenstillstand eher zurück haltend ist. Denn vor allem die rechte "Jüdisches Heim", die ihre Wählerbasis in den israelischen Siedlungen im Westjordanland hat, versucht mit ihrer Forderung nach Härte und Vergeltung auch bei jenen Rechten zu punkten, die bei den vergangenen Wahlen im Januar 2013 für ultra-rechte Kleinparteien gestimmt hatten, die es nicht über die damals geltende 2,5 Prozent-Hürde geschafft hatten.

Für Netanjahu steht mittlerweile der Fortbestand der Koalition in ihrer jetzigen Form auf dem Spiel: Bislang war damit zu rechnen gewesen, dass auch die Rechten trotz ihrer Forderungen im Kabinett bleiben - das haben sie auch in der Zeit der neunmonatigen Friedensverhandlungen getan, wobei der Preis dafür hoch war: Netanjahu musste immer wieder hinnehmen, dass weitere Baumaßnahmen in Siedlungen angekündigt wurden. Am Ende führte das, zusammen mit der israelischen Weigerung, der letzten Stufe der ursprünglich vereinbarten Gefangenenfreilassung zuzustimmen, zum Scheitern der Verhandlungen und zu einer massiven Belastung des Verhältnisses mit den Vereinigten Staaten.

Doch am Sonntag wurde bekannt, dass sechs Verdächtige fest genommen wurden, die für den Mord an dem arabischen Jugendlichen verantwortlich sein sollen. Viele Einzelheiten sind nicht bekannt, da die Details einer Nachrichtensperre unterliegen. Es handelt sich bei den Festgenommenen um jüdische Israelis. Sollten sie, wie vermutet wird, dem ultranationalistischen Umfeld entstammen, wird damit auch die Forderung nach einem Vorgehen gegen ohne Genehmigung gebaute Siedlungsaußenposten wieder auf der Tagesordnung landen: Sie bilden die Basis für extremistische Gruppen, die mittlerweile für eine Vielzahl von Angriffen auf Palästinenser und ihren Besitz verantwortlich gemacht werden.

Denn die Wut von Palästinensern und arabischen Israelis ist groß, und mittlerweile wird immer wieder die Befürchtung geäußert, es könne eine dritte Intifada bevorstehen. Die Aggressionen entstehen nicht allein durch die grausamen Umstände des Todes des Jugendlichen, sondern auch durch ein weit verbreitetes Gefühl, dass Israels Regierung mit zweierlei Maß misst: Im Falle der drei israelischen Jugendlichen wurde die Bewegungsfreiheit von Hunderttausenden eingeschränkt, wurden Hunderte ohne Haftbefehl festgesetzt. Nun möchte man sehen, dass Israels Regierung auch im Fall des ermordeten arabischen Jugendlichen ernst macht.

Er werde eine dritte Intifada zu verhindern suchen, sagte Präsident Mahmud Abbas am Wochenende. Aber Israels Regierung müsse zeigen, dass sie es mit der Aufklärung des Mordes ernst meint: Im Falle der drei Jugendlichen habe man kooperiert, und mit den israelischen Behörden zusammen gearbeitet, obwohl die Kritik in der palästinensischen Öffentlichkeit daran groß war. Nun müsse Israel das gleiche tun, was man in Israel allerdings auch tut: An der Obduktion war ein palästinensischer Gerichtsmediziner beteiligt; zudem gestand man der palästinensischen Staatsanwaltschaft zu, die verfügbaren Obduktionsergebnisse bekannt zu geben.

Doch gleichzeitig stellt sich die Frage, ob Abbas überhaupt noch ausreichenden Einfluss hat, um die Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Er gilt in der palästinensischen Öffentlichkeit als israelische Marionette, der seinen Worten selten Taten folgen lässt. Deshalb wird auch in Israel mittlerweile davor gewarnt, dass Abbas bald so geschwächt sein könnte, dass er die Macht ganz verliert. So errichteten Siedler im Laufe der vergangenen Woche sechs neue Siedlungsaußenposten, alle ohne Genehmigung, aber unter dem Schutz des Militärs.