Paul Krugman sieht keine Finanzblasen

Der Nobelpreis-Ökonom läuft Gefahr, in die Fußstapfen des einstigen Star-Ökonomen Irving Fischer zu treten, der der Wall Street kurz vor dem Mega-Crash von 1929 ein "dauerhaft höheres Niveau" bescheinigt hatte

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Die aktuelle Situation an den Finanzmärkten ist offensichtlich von extrem niedrigen Risiko-Prämien geprägt, weshalb die Aktien-Indizes in Frankfurt und an der Wall Street gleichzeitig auf Rekordjagd gehen. Junk-Bonds und drittklassige Staatsanleihen finden trotz Zinsen auf historischen Tiefstständen reißenden Absatz und laut IWF liegen die Immobilienpreise in der Schweiz, Großbritannien, Belgien, Schweden inzwischen um rund 50 Prozent über ihrem historischen Schnitt. In Österreich, den Niederlanden, Norwegen und Frankreich sei die Überbewertung "mindestens zweistellig" sei und in Kanada, Australien und Neuseeland liege sie bei rund einem Drittel.

Das wird längst auch von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ: "Schuldenfalle kann nur durch einen geordneten Schuldenabbau verhindert werden") und selbst von den meisten Wall-Street-Analysten mit Sorge registriert und mit den durchwegs "künstlich zu niedrig gehaltenen" Leitzinsen begründet. Befürchtet wird nun, dass sich dieser Trend irgendwann umkehren und in einer schlimmen Finanzkrise enden werde, weshalb die Geldpolitik nicht nur laut BIZ längst hätte gegensteuern müssen.

Krugman sieht das offenbar anders und stößt sich in seiner NY-Times-Kolumne vor allem an der Frage, was mit "künstlich zu niedrigen Leitzinsen" eigentlich gemeint sei. Die ganze Zeit höre er diese Phrase, von der er meint, dass die wenigsten, die sie gebrauchten, gut durchdacht hätten, was sie bedeutet. Krugman weiß das natürlich und beruft sich auf den 1926 verstorbenen Ökonomen Knut Wicksell, der eine "unnatürliche Zinsrate" als jene definiert hatte, die so niedrig sei, dass die Wirtschaft überhitzt und sich die Inflation beschleunigt.

Das sei in den USA aber nicht in bedrohlichem Ausmaß der Fall. "Zwar gibt es einen leichten Aufwärtstrend bei einzelnen Inflationsaggregaten, aber es ist nichts da draußen, was in diesem makroökonomischen Sinn auf eine viel zu niedrige Zinsrate deuten würde", schreibt Krugman. Wer sich also über eine zu niedrige Zinsrate beklage, könne folglich nur meinen, dass sie unter den historischen Standards liege. Das ist für Krugman jedoch kein überzeugendes Argument, weil dafür auch die demographischen Veränderungen und das laufende "Deleveraging" (Schuldenabbau) verantwortlich sein könnte. Damit bleibe als Begründung nur die Höhe der Vermögenspreise, die ohne die "künstlich niedrigen Zinsen" keinen Sinn machen würden. So will Krugman einen Zirkelschluss aufgedeckt haben:

Akzeptiert man einmal die Möglichkeit, dass die Leitzinsen dort sind, wo sie hingehören, und der Wicksellschen "natürlichen Zinsrate" entsprechen, muss man schließen, dass auch die Vermögenspreise Sinn machen; und wer deshalb zugibt, dass folglich auch die Vermögenspreise Sinn machen könnten, der verliert jegliche Unterstützung für die Behauptung, dass die Leitzinsen komplett falsch liegen.

Darüber hinaus vermisst Krugman den in Boomzeiten üblichen "irrationalen Überschwang", weshalb es "einfach keinen makroökonomischen Grund gibt zu behaupten, dass die Leitzinsen viel zu niedrig oder die Vermögenspreise generell überhöht wären".

In einem weiteren NYT-Posting präzisiert Krugman seine angeblich keynesianische Sicht auf die Geldpolitik, wonach die Notenbank die Zinsen - wenn sie kann - so setzen sollte, dass Vollbeschäftigung erreicht wird. Sei das nicht möglich sei, etwa weil die Wirtschaft auch bei einem Zinssatz von Null depressiv bleibt, müsse nun zusätzlich die Fiskalpolitik eingesetzt werden, während die Notenbank in normalen Zeiten einfach den Vollbeschäftigungs-Zins anstreben müsse, den Krugman mit Wicksells "natürlicher Zinsrate" gleichsetzt.

Für Krugman hat die Diagnose der BIZ, die den Notenbanken Jahrzehnte an zu niedrigen Leitzinsen vorwirft, aber schon deshalb nichts mit dieser "natürlichen Zinsrate" zu tun, weil die Inflationsraten derzeit weltweit niedriger lägen als vor 20 Jahren. Folglich würde die BIZ nicht die "natürliche Zinsrate" vorschlagen, sondern eine weitere "ideale" Zinsrate postulieren, die eben hoch genug wäre, um Finanzblasen abzubauen. Sollte eine Notenbank diese Rate aber anstreben, selbst wenn sie über der "natürlichen Zinsrate" liegt, sei dies damit gleichbedeutend, die Wirtschaft permanent depressiv zu halten, nur um den "irrationalen Überschwang" der Investoren einzudämmen, was wohl tatsächlich keine gute Idee wäre.

Krugman sieht sich hier offenbar ganz in der Keynesschen Tradition, der die Vollbeschäftigung zu seinem obersten Ziel erklärt hatte. Allerdings hatte Keynes als gleichberechtigtes zweites Ziel stets auch die Fairness angeführt, so dass Keynes wohl Probleme hätte, Null-Zinsen zu akzeptieren, wenn diese zwar nicht zu Vollbeschäftigung führen, dafür aber eine Vermögensumverteilung von unten nach oben bewirken. Darüber hinaus gab es in Keynes Arbeiten wenig Konstanz und schon gar keinen Dogmatismus, sondern Keynes war immer dazu bereit, sein Denken an neue Verhältnisse anzupassen und die in der jeweiligen Situation vorurteilsfrei nach einer optimalen Lösung zu suchen.

Und so könnte Keynes in unserer aktuellen Situation möglicherweise konstatierten, dass die Inflationsrate durch den Preisdruck der Globalisierung an Aussagekraft verloren habe. Vielleicht käme er auch zu dem Schluss, dass die Effekte der Null-Zinsen aus strukturellen Gründen nicht dort landen, wo sie sollen, nämlich bei Investitionen in den Aufbau von rentablen Produktionskapazitäten. Dann würde Keynes sich jedoch kaum um die konkrete Zinshöhe kümmern, sondern überlegen, wie die erwünschten Ausgaben gefördert und die unerwünschten (also z.B. jene in Finanzmarktinvestitionen und den Konsum schlechter Schuldner) gedämpft werden könnten, was offenbar nach feineren geldpolitischen Werkzeugen als der bloßen Höhe des Leitzinssatzes verlangt.

Vielleicht kann man Krugman nun zugute halten, dass er bei einer Leitzinsanhebung den nächsten und vielleicht noch schwereren Crash heranziehen sieht, der wohl aufs Neue alle ökonomischen Hoffnungen zunichte machen würde. Aber genau der dürfte aller Voraussicht nach ohnehin irgendwann eintreffen - außer Krugman hätte Recht und es wäre diesmal wirklich alles anders - wie es seit Irving Fischer noch in jeder Boomphase von einzelnen Ökonomen behauptet wurde.