Deutschlands Kanzlerin - die Klassenbeste

Aber was kommt, wenn sie geht? Ein Kommentar

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Angela Merkel feiert ihren Sechzigsten. Sie hat Grund zu guter Laune: Anders als die politischen Spitzenkräfte in den übrigen europäischen Staaten kann sie ihr Amt ohne jede Anfechtung ausüben. Beim deutschen Publikum genießt sie hohes Ansehen. In ihrer Partei bestreitet ihr niemand die absolute Führungsposition, fast 98 Prozent der Delegierten haben sie beim letzten Bundesparteitag als Vorsitzende bestätigt. Und die bayerische Schwesterpartei ist gezähmt.

Die offene oder verhaltene Kritik, auf die Angela Merkel in etlichen Ländern der EU stößt, kann sie gelassen hinnehmen - die Bundesrepublik ist ökonomisch Europameister. Der US-amerikanische Präsident scheint ein bisschen verärgert über die deutsche Kanzlerin, aber riskant ist das nicht, die Atlantikbrücke wird er deshalb nicht demontieren. Und selbst der Präsident Russlands plauderte nett mit Angela Merkel beim WM-Endspiel. Sie genießt Respekt auch bei denen, die an ihrer Politik keinen Gefallen haben. Dass sie durch einen persönlichen Skandal ins Wanken gerät, ist nicht zu erwarten; vor diesem Politikerschicksal ist sie gefeit, sie weiß ja ganz aus der Nähe, wie es Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble ergangen ist.

Bild "Torte": Roozitaa. Lizenz: CC-BY-SA-3.0 / Bild "Angela Merkel": Martin Rulsch. Lizenz: CC-BY-SA-4.0.

Unwirksam sind polemische Abrechnungen mit der Kanzlerin geblieben, die auf Beifall im christdemokratischen Milieu rechneten, so etwa Gertrud Höhlers Buch "Die Patin". Was soll schon eine Schimpfkanonade auf die Politikerin, der ganz offensichtlich die Unionsparteien ihre langanhaltende Funktion als führende Regierungspartei im Bund zu verdanken haben? Die Sozialdemokraten wiederum haben allen Grund, mit Angela Merkel freundlich umzugehen. Peer Steinbrück hatte ernsthaft keine Aussichten, die Kanzlerin abzulösen, und schließlich will die SPD weiterhin mitregieren, eine rosa-grün-rote Bundeskoalition ist nicht wirklich in Sicht. Die Grünen sind merkelaffin, sie können sich gut vorstellen, demnächst als Juniorpartner der Kanzlerin behilflich zu sein. Auch die AfD oder die FDP würden, wenn sie Gelegenheit dazu hätten, eine Nebenrolle unter Angela Merkel nicht verschmähen. Und sogar Die Linke verhält sich höflich gegenüber der Kanzlerin, denn diese führt keine allzu bösen Reden über die sogenannte "SED-Nachfolgepartei".

Eine tüchtige, intelligente und geschickte Frau ganz oben in der Politik, ohne Allüren - das wirkt beruhigend in Deutschland, angesichts der Turbulenzen draußen in der Welt.

Aus unterschiedlichen Motiven und je spezifischen Interessen herrscht im Politikhaushalt der Bundesrepublik das Gefühl vor, mit Angela Merkel als Kanzlerin befinde man sich unter solider Betreuung. "Deutschland, einig Mutterland" - was gelegentliches Murren über die durchaus selbstbewusste Familienvorsteherin nicht ausschließt.

Eine derartige Machtposition kommt nicht durch glückliche Zufälle zustande. Schon zu ihrer Schul- und Studienzeit in der DDR zeichnete sich Angela Merkel nicht nur durch Bestnoten aus, auch durch taktische Kompetenz. Ihre politische Karriere im wiedervereinigten Deutschland ist durch besondere Qualifikationsmerkmale gekennzeichnet: Sich harmlos zeigen, Vertrauen im Umfeld herstellen, nicht durch überzogenen Ehrgeiz auffallen, ohne Aufgeregtheit agieren, in Problemsituationen patent scheinende Lösungen anbieten, bei Politikthemen und -Inhalten lernfähig auftreten. Und stets darauf verweisen, dass es sich um Sachentscheidungen handele, unvermeidliche, ohne Alternative.

Der Vorwurf, Angela Merkel sei "wendehälsig", geht an den Bedingungen des Politikbetriebs in Systemen wie der Bundesrepublik vorbei; Machterhalt jedenfalls erfordert ein hohes Maß an ideeller Flexibilität. Insofern ist es ein Zeichen professioneller Tauglichkeit, wenn Angela Merkel für sich in Anspruch nimmt, sie sei konservativen, liberalen und sozialstaatlichen Zielen gleichermaßen verpflichtet und um Belange der Unternehmerschaft ebenso besorgt wie um die der Arbeitnehmerbevölkerung.

"Volksgemeinschaftlich" präsentiert sie sich, in der postmodernen, unideologisch auftretenden Version, und selbstverständlich nicht mehr deutschtümelnd, sondern unter Berufung auf europäische und weltpolitische "Verantwortung".

Desaströse Folgen für Union und Gesellschaft

Allerdings hat eine solche Führungsrolle ihre territorialen und historischen Begrenzungen. Sie lässt sich erfolgreich nur darstellen in einer Gesellschaft, die materiell in einer vergleichsweise günstigen Situation ist, zumindest mehrheitlich. Mögliche künftige Abwärtstendenzen beim Wirtschaftsrang der Bundesrepublik sind in das Politikmuster der Kanzlerin nicht eingerechnet, daraus entstehende soziale Konflikte ebenso wenig. Strukturschwächen im System materieller Sicherung - vor allem der Altersvorsorge für nachwachsende Generationen - sind nicht im gesellschaftspolitischen Kalkül, die unangenehme Beschäftigung damit ist in die Zukunft verschoben. Niemand weiß, wie lange die gegenwärtigen Mechanismen des europäischen Finanzsystems praktikabel sein werden, und unberechenbar ist auch, ob der EU-Staatenverbund (mit der gegenwärtigen Vorrangstellung der Bundesrepublik) politisch stabil bleibt.

Solche Ungewissheiten müssen Angela Merkel nicht in Panik treiben - wenn sie, worauf sie sich bisher verstanden hat, den richtigen Zeitpunkt für Entscheidungen in ihrem politischen Lebenslauf wählt. Der Spiegel hat ihr dafür jüngst einen Wink gegeben; er kolportierte das Gerücht, sie wolle vor der nächsten Bundestagswahl "auf ihr Amt verzichten". So wäre aller Wahrscheinlichkeit nach gewährleistet, dass ein schönes Bild von ihr, als bruchlos höchst erfolgreicher Kanzlerin, in die Geschichtsbücher eingeht. Auch stünde ein hübsches Foto dafür zur Verfügung: Angela Merkel jetzt beim Finale - für eine fünfte deutsche Fußballweltmeisterschaft gibt es keine Garantie.

Dumm dastehen würde beim Amtsverzicht der Kanzlerin freilich die CDU/CSU. Sie ist längst eine Merkel-Partei, ohne diese Alleinerzieherin käme sie in eine Lage, wo die verwaisten Kinder sich um ein zerfallendes Erbe streiten. Selbst Ursula von der Leyen, so ist zu vermuten, würde als Ersatz für das bisherige Familienoberhaupt nicht allgemein akzeptiert. Ansonsten sind talentierte Spitzenkräfte bei der Union nicht zu entdecken; Angela Merkel hat auch keinen Wert darauf gelegt, sie heranzuziehen oder zu halten.

Die machtpolitische Überzeugungskraft der CDU ist schwach, wenn man die Kanzlerin wegdenkt. Die Verankerung der Partei an der gesellschaftlichen Basis hat nicht mehr jene Festigkeit wie in den Zeiten von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl. Und über ein Alleinstellungsmerkmal im thematischen Angebot des Parteienmarktes verfügt die Merkel-CDU nicht.

So ist in den spezifischen Formen von Machterwerb und Machterhaltung unter der gegenwärtigen Kanzlerin ein späteres Desaster angelegt. Einen Verlust an Bedeutung der Union kann die deutsche Gesellschaft verschmerzen, es gibt Schlimmeres. Von den Folgen der Politikmethodik in der Ära Merkel wird nicht nur die Parteienszene betroffen sein.