Ukraine-Konflikt: ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik

"Fragmentarisch", "tendenziös", "mangelhaft" und "einseitig": Der Programmbeirat teilt über weite Strecken die Publikumskritik an der Berichterstattung

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Der Programmbeirat der ARD kritisierte auf seiner Sitzung im Juni 2014 die Berichterstattung der größten öffentlichen Medienanstalt über den Ukraine-Konflikt. Die ausgestrahlten Inhalte hätten teilweise den "Eindruck der Voreingenommenheit erweckt" und seien "tendenziell gegen Russland und die russischen Positionen" gerichtet, heißt es im Resümee aus dem Protokoll (PDF) des neunköpfigen Gremiums, das Telepolis vorliegt. Wichtige und wesentliche Aspekte des Konflikts seien von den ARD-Redaktionen "nicht oder nur unzureichend beleuchtet" worden, insgesamt zeigte sich die Berichterstattung "nicht ausreichend differenziert", urteilen die Medienkontrolleure.

Der Programmbeirat der ARD soll die Interessen der Zuschauer gegenüber den Programmverantwortlichen vertreten und dafür sorgen, dass der Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks umgesetzt wird. Das Ziel von Deutschlands größter Medienanstalt ist es, allen Zuschauern "hochwertige Information" anzubieten. Die neun Landesrundfunkanstalten der ARD entsenden aus ihren jeweiligen Rundfunkräten jeweils ein Mitglied sowie einen Stellvertreter in den Beirat. Die Entscheidung darüber, welche Person die regionalen Rundfunkräte in den nicht öffentlichen Sitzungen vertritt, fällt per Wahl.

Vor seiner Juni-Sitzung analysierten die Mitglieder des beratenden Gremiums "eine ganze Reihe von Beiträgen" über die Krise in der Ukraine. Anlass für diese Maßnahme, welche der Beirat selbst als "ungewöhnlich" bezeichnet, war die breite Kritik aus den Reihen des Publikums an der Ukraine-Berichterstattung im Ersten. Die Zuschauer beklagten "Einseitigkeit zulasten Russlands, mangelnde Differenziertheit sowie Lückenhaftigkeit", heißt es dazu im Bericht.

Die Ergebnisse dieser internen Medienanalyse sorgten für eine äußerst scharfe Debatte auf dem Treffen des Beirates mit dem stellvertretenden Programmdirektor Thomas Baumann. Einzelne Publikumsvertreter bezeichneten dort die Berichterstattung der ARD als "naiv, einseitig und gefährlich". Ihre schriftliche Kritik verabschiedeten die Delegierten im ARD-Beirat zudem einstimmig.

Wesentliche Aspekte vernachlässigt

Insgesamt musste der Programmbeirat nach einer umfangreichen inhaltlichen Analyse in zehn Punkten eine unzureichende Arbeit der ARD feststellen. Differenzierende Berichte über die Verhandlungen der EU über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine hätten gefehlt. Die "politischen und strategischen Absichten der NATO" bei der Osterweiterung seien kaum thematisiert worden. Die Legitimation des "sogenannten Maidanrats" und die "Rolle der radikal nationalistischen Kräfte, insbesondere Swoboda" hätten ebenso wenig eine Rolle gespielt wie deren Aktivitäten beim Scheitern "der Vereinbarung zur Beilegung der Krise in der Ukraine vom 21. Februar".

Weiterhin moniert der Beirat, dass die "Verfassungs- und Demokratiekonformität" der Absetzung Janukowitschs sowie die Rolle rechtsradikaler Kräfte bei dessen Sturz nicht hinreichend Gegenstand der ARD-Berichterstattung waren. Zudem hätte sich der Beirat eine kritische Analyse von Politikern wie Julia Timoschenko und Vitali Klitschko gewünscht. Gerade in jüngster Zeit fehlten "belastbare Belege für eine Infiltration durch russische Armeeangehörige".

Chancen für solide Darstellung vertan

Besonders der letzte der zehn aufgeführten Kritikpunkte dürfte der Chefredaktion der ARD persönlich zu schaffen machen: Die Mitglieder des Beirats vermissen "einen längeren Beitrag, um die tieferen Ursachen der Krise" verständlich zu machen. Als die Kritik an der Auslandsberichterstattung der ARD bereits hohe Wellen geschlagen hatte, sendete man am 19. Mai mit "Zwischen Chaos und Krieg - Wer zerstört die Ukraine?" eine solche Dokumentation.

Der Chefredakteur des Hauses, Dr. Kai Gniffke, verteidigte in einem Blog-Eintrag unmittelbar vor der Ausstrahlung dieser Sondersendung seine bisherigen redaktionellen Entscheidungen. "Entscheidend ist für mich, dass die Gesamtleistung stimmt", argumentierte der Chefredakteur der ARD und kam zu dem Ergebnis, dass "wir uns um größtmögliche Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit bemüht haben".

Genau dieses Resultat können die Mitglieder des Beirates nicht bestätigen. "Nach Auffassung des Programmbeirats", heißt es im Resümee aus dem Protokoll seiner Juni-Sitzung, hat diese Dokumentation erneut "die Chance vertan, die Entwicklung der Krise in der Ukraine solide darzustellen". Ausdrücklich monieren die Kontrolleure die Auswahl der darin auftretenden Experten.

"Einige wenige positive Themensetzungen"

Von allen untersuchten Formaten, darunter auch die Brennpunkt-Sendungen und viele Magazin-Beiträge, erwähnen die Beiratsmitglieder nur die Redaktionen ttt, Plusminus, Monitor und Panorama mit "einigen wenigen positiven" Themensetzungen. Alle anderen Beiträge erfahren in dem Bericht eine vernichtende Kritik. Wertungen wie "fragmentarisch", "tendenziös", "mangelhaft" und "einseitig" durchziehen das gesamte Resümee aus dem Protokoll.

Besonders negativ seien die Weltspiegel-Ausgaben des Bayrischen Rundfunks mit einer "einseitigen, fast schon an die Sprache des Kalten Krieges gemahnenden Moderation" sowie der "Bericht aus Berlin" hervorgestochen. Bei den Talkshows der ARD hätten zudem schon die Titel "häufig antirussische Tendenzen" erkennen lassen.

Empfehlungen an die ARD

Die neun Mitglieder des Programmbeirats empfehlen der ARD "eine gründlichere Recherche durch die politischen Redaktionen". Angesichts der Fortdauer der Krise sei es wünschenswert, auch noch "im Rückblick Recherche und Information" zu verstärken. Das Ziel sollte es sein, mehr Dokumentationen und Hintergrundberichte zu produzieren, um die Entwicklungen in der Ukraine "nachvollziehbar zu machen".

Ob diese Empfehlungen umgesetzt werden, ist jedoch fraglich. Laut Informationen aus den Beiräten äußerte der ARD-Chefredakteur und stellvertretende Programmdirektor, Thomas Baumann, zwar sein Verständnis für die vorgebrachte Kritik. Aber der Programmbeirat hat nur eine beratende Funktion. Wichtige Entscheider wie der Intendant Tom Buhrow und der Fernsehdirektor Jörg Schönenborn, beide aus dem WDR, werben intern offensiv für eine redaktionelle Linie, die sich darauf konzentriert, die "westlichen Positionen zu verteidigen", hieß es aus der ARD gegenüber Telepolis. Insbesondere Tom Buhrow soll in der Konferenz der Gremienvorsitzenden der ARD auf die kritischen Anmerkungen durch den Beirat "extrem aufgebracht und teilweise unsachlich" reagiert haben.

Angst vor dem Publikum

"Teilweise besteht die Tendenz, die Kritik intern als eine 'Kampagne von Ostdeutschen und Linken' darzustellen", vermutet Maren Müller, Vorsitzende der Initiative Ständige Publikumskonferenz. Die NGO erhält inzwischen fast täglich Hinweise aus dem Publikum der öffentlich-rechtlichen Sender. Zur Zeit betreffen sie mehrheitlich Berichte über die Ukraine. "Vorwiegend stammen unsere Mitglieder übrigens aus den alten Bundesländern, ohne besonders politischen Hintergrund", erläutert die Medienaktivistin auf Anfrage von Telepolis. Schon ihre berühmte Petition zur Ablösung von ZDF-Moderator Marcus Lanz hatten überwiegend Zuschauer aus dem Südwesten der Republik unterzeichnet.

Die aktuellste Beschwerde betrifft die Redaktion der Tagesthemen. Aus einem Interview mit dem Kollegen vom Spiegel, Christian Neef, wurde eine nicht ganz unwesentliche Szene herausgeschnitten. Auf die Frage der Moderatorin, ob die Menschen in Donezk durch die Regierungskräfte aus Kiew befreit werden wollen, antwortete Christian Neef von Vorort: "Dass sie von den Ukrainern befreit werden wollen, das glaube ich nun nicht, sie haben nach wie vor eine sehr skeptische Haltung gegenüber Kiew." Im anschließend ausgestrahlten Interview fehlte diese direkte Antwort. Stattdessen sendeten die Tagesthemen ausführlich den Eindruck des Korrespondenten, die lokale Bevölkerung würde die Rebellen weniger unterstützen.

Für Maren Müller handelt es sich um einen typischen Fall. Der Programmbeirat hat ihrer Meinung nach eine zu schwache Position unter den ARD-Gremien. "Die Position der Zuschauer muss innerhalb der Öffentlich-Rechtlichen strukturell gestärkt werden", fordert Müller. Es könne nicht sein, dass ein Publikumsbeirat der Schweigepflicht unterliegt und seine Einschätzungen bestenfalls "empfehlenden Charakter" haben. Ein Anteil der Beiträge sollte zudem für eine unabhängige Programmanalyse eingesetzt werden, die durch einen Publikumsbeirat verantwortet wird, fordert die Vorsitzende der Ständigen Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien.

Die verlinkte PDF-Datei enthält aus Gründen des Quellenschutzes keine Informationen über den tatsächlichen Ersteller des Textes. Der Autor hat die Authentizität des Protkolls aus verschiedenen Quellen bestätigen lassen.

Update:: Mittlerweile hat ARD-Chefredakteur Thomas Baumann auf die Kritik reagiert und sich wie folgt geäußert:

Den Vorwurf einer einseitigen und tendenziösen Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt weise ich energisch zurück. Dies habe ich auch gegenüber dem ARD-Programmbeirat deutlich gemacht. Es gab und es gibt zahlreiche Beiträge, Sendungen und Sondersendungen im Ersten Programm, die in der Summe die Lage in der Ukraine und die Ursachen der Krise differenziert und unter verschiedenen Aspekten thematisiert haben und thematisieren. Unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort tragen unter schwierigsten Bedingungen mit ihrer Arbeit entscheidend dazu bei, unser Publikum umfassend und so wahrheitsgetreu wie möglich zu informieren.