Die Entscheidungsmaschinen kommen

Von der Selbstvermessung und der Kybernetik einer beängstigend perfekten Welt

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Die Meldung, dass Generali, einer der fünf größten Erstversicherer in Deutschland, Gesundheits- und Fitnessdaten seiner Kunden auswerten und für ein Incentive-Programm nutzen will, ruft erste Kritik von Verbraucherschützern hervor (Meine Dienstleistung gegen Deine Daten). Gleichwohl greift der Zweifel an den Rabatten und Gutscheinen, die auf digitaler Selbstvermessung und Selbstdokumentation, also auf Lifelogging, beruhen zu kurz.

Wer diese Entwicklung umfassend verstehen möchte, muss sich mit der umfassenderen Sehnsucht nach Entscheidungsmaschinen beschäftigen, die vermeintlich fortschrittsgläubige Menschen schon seit Langem antreibt. Neu ist hingegen, dass diese Entscheidungsmaschinen nun technisch realisiert werden können. Aber sie werden uns nicht nur Entscheidungen abnehmen, sondern auch reihenweise digitale Versager produzieren.

Wir leben zunehmend in einer versachlichten Realität. Vor kurzem sprach ich mit einem Mönch über den Wandel der Klöster in der Moderne. Frustriert berichtete er, dass Äbte heute sogar Betriebswirtschaft studieren, Klöster nach der Balanced Score Card geführt werden und der Vatikan Berater von McKinsey beschäftigt. Sogar in Klöstern sind Kennzahlen wichtiger als Kontemplation. Zwischen der betriebswirtschaftlichen Optimierung von Klöstern und der Einführung des Gamifications-Prinzips bei Krankenkassen besteht kein großer Unterschied mehr. Beiden Ideen liegt die Sehnsucht nach einer intellektualistischen Rationalität zugrunde, dem unbedingten Vertrauen in die prinzipielle Erklärbarkeit der Welt durch Datensammlungen.

Der Staat als bestinformierter Spieler

Man muss ein wenig zurückblenden, in eine Zeit weit vor Facebook aber knapp nach der Enigma, um sich der Sehnsucht nach Entscheidungsmaschinen anzunähern. Am 28. Dezember 1948 veröffentlichte der Dominikanermönch Pater Dubarle in der Zeitung Le Monde eine enthusiastische Besprechung des Buches "Kybernetik" von Norbert Wiener. Darin skizzierte er ein Programm, das gegenwärtig Stück für Stück umgesetzt wird:

"Eine der interessantesten (...) Aussichten ist die der rationalen Regelung menschlicher Angelegenheiten, insbesondere diejenigen, die die Gemeinschaft angehen und eine gewisse statistische Gesetzmäßigkeit zu zeigen scheinen", schrieb der Mönch und wünschte sich weiter einen Staatsapparat, eine machine à gouverner, die "die gegenwärtige offensichtliche Unzulänglichkeit des mit der herkömmlichen politischen Maschinerie befassten Gehirns aus dem Weg räumen wird." Dubarle war nicht so naiv, zu glauben, dass sich die Welt Eins-zu-Eins in Daten abbilden ließe. Für ihn waren menschliche Handlungen "Gegebenheiten, die sich nicht exakt bestimmen lassen wie numerische Daten." Daher forderte er eine Maschine, die nicht rein deterministisch handelt, sondern "den Stil des Wahrscheinlichkeitsdenkens" anstrebt und er fügte hinzu: "Das macht sie verwickelter, aber nicht unmöglich."

Wesentlich für die folgende Argumentation ist jedoch, dass er die Macht der Entscheidung, die aus der probabilistischen Matrix der Maschine resultiert, zumindest rein gedanklich dem Staat übertrug. Vielleicht konnte man 1948 einfach nicht anders denken. Unter dem frischen Eindruck der gerade erfundenen Spieltheorie formulierte er daher:

Die machine à gouverner werden den Staat zum bestinformierten Spieler auf jeder einzelnen Ebene machen, und der Staat ist der einzige und höchste Koordinator aller Teilentscheidungen.

Pater Dubarle

Und abschließend entwarf er ein Schreckensszenario der Fortschrittsgläubigkeit, eine Dystopie, die sich gegenwärtig Schritt für Schritt vor unser aller Augen realisiert. Die Aufgabe der Entscheidungsmaschine sah er in der fundamentalen Entscheidung über das Leben der Menschen: "Unmittelbare Vernichtung oder organisierte Zusammenarbeit. (...) Wahrlich eine frohe Botschaft für die, die von der besten aller Welten träumen!"

Individualisierung des Risikomanagements als Grundlage für Selbstvermessung

Was ist seitdem aus dieser vollendet positivistischen Vision geworden? Inzwischen leben wir in einer Unsicherheitskultur, die Prekarität nicht als Ausnahme sondern als Ausgangspunkt unseres Denkens, Fühlens und Handelns definiert. Global und biografisch verspüren wir Unsicherheit. Hoffnungen auf eine Normalbiografie werden immer verlässlicher enttäuscht. Jobs sind nicht mehr sicher, Geld ist nicht mehr sicher, der Sommerurlaub ist nicht mehr sicher. Der verunsicherte und zugleich erschöpfte Mensch zieht sich also auf das zurück, was er beherrschen kann. Und bei dieser Endogenisierung des eigenen Risikomanagements entdeckt er den eigenen Körper als Baustelle, als Tempel und als Rohstofflager.

Diese verinnerlichte Kontrollkultur ist Ausdruck eines mechanistischen Weltbildes, der Sucht nach Planbarkeit und Beherrschung der Welt im Maßstab der Ich-Illusion. Und zugleich der Weigerung, mit der Kontingenz, also der Zufälligkeit und dem Chaos des eigenen Lebens umzugehen. Gott sitzt jetzt im eigenen Kopf, der verunsicherte Mensch kontrolliert sich nun selbst und greift dabei immer häufiger auf die Hilfe digitaler Heinzelmännchen zurück, den smarten Geräten aus dem Reich der digitalen Selbstvermessung.

An dieser Praxis lassen sich nicht nur religiöse Züge aufzeigen, sie trägt auch zur Ökonomisierung unsrer Lebensdaten bei. Versicherungen (oder allgemeiner: Unternehmen), die Kunden "im Stil des Wahrscheinlichkeitsdenkens", also auf rein probabilistischer Basis nach dem Risikoäquivalenzprinzip einteilen, tragen zu Solidaritätsbrüchen bei, die gerade diejenigen Gemeinschaften erodieren lassen, auf die man sich vermeintlich bezieht. Wenn Menschen - egal ob Arbeitnehmer, Kunden oder Versicherungsnehmer - nur dann Leistungen (z.B. in der Form von Vergünstigen) erhalten, wenn sie sich norm- und damit marktkonform verhalten, wenn sie also letztlich einem "mittleren Risikotyp" entsprechen, dann entspricht das einer schleichenden Absage von einem Solidarprinzip auf der Basis von Risikoumlagen auf eine möglichst große Gruppe. Es ist der Weg hin in eine Atomisierung der Verantwortung. Am Ende dieser Entwicklung stehen dann Individualverantwortung und folgerichtig Individualverträge.

Wenn aber in diesem Spiel Gewinner entstehen, die mit Rabatten und Gutscheinen belohnt werden, dann wäre es naiv anzunehmen, dass nicht auch auf der anderen Seite der Skala die Verlierer bestraft würden, schließlich wird unter einer betriebswirtschaftlichen Perspektive kaum zu vermeiden sein, dass die Kosten umgelegt werden müssen. Denn der "bestinformierte Spieler auf jeder einzelnen Ebene", also das Unternehmern, das über Entscheidungsmaschinen verfügt, kennt auch diejenigen, die nicht fit sind und die sich nicht präventiv verhalten. Und dann?

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