"Massives Feuer" der ukrainischen Streitkräfte

Erbitterte Kämpfe zwischen ukrainischer Armee und Aufständischen um die Städte Donezk, Gorlowka und Mariupol. Der Waffenstillstand ist nur noch Papier

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit Sonntag wird um mehrere Städte und Dörfer in der Ost-Ukraine wieder von beiden Seiten mit schwerer Artillerie gekämpft. Es sind die heftigsten Gefechte seit dem Waffenstillstand im September.

Bild: novorossia.su

UN-Generalsekrektär Ban Ki-moon erklärte am Montag, eine "weitere Verschlechterung der Situation" müsse "um jeden Preis" verhindert werden. Der Vorsitzende der OSZE, der serbische Außenminister Ivica Dačić, appellierte an beide Seiten des Konfliktes auf "provokatorische Handlungen" zu verzichten.

Moskau erklärt, in Kiew habe die "Partei des Krieges" das Ruder übernommen. Am Sonntagabend sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, Andrej Lysenko, die ukrainischen Streitkräfte hätten massives Feuer auf die Separatisten eröffnet. Die ukrainischen Streitkräfte planten jedoch "keine Angriffstätigkeit". Die im Minsker Vereinbarung beschlossen Waffenstillstands-Streifen werde "nicht überschritten".

Als in den letzten Tagen klar wurde, dass die Bojewiki (Kämpfer) die Minsker Vereinbarung nicht einhalten, wurde die Entscheidung getroffen, insbesondere darüber, den Teil des Territoriums des Flughafens von Donezk zu befreien, den die Bojewiki besetzt hatten.

Andrej Lysenko

Die ukrainische Artillerie beschoss auch Stadtbezirke von Donezk. Betroffen waren unter anderem der Petrow-, Kirow- und Kujbischew-Bezirk.

Moskau und Kiew bekennen beide friedliche Absichten und reden doch aneinander vorbei. Der Pressesprecher der russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, äußerte sich "äußerst besorgt" über die "Wiederaufnahme von Kriegshandlungen". Wladimir Putin habe am Donnerstag einen Brief an den ukrainischen Präsidenten mit dem Vorschlag geschickt, auf beiden Seiten die schwere Artillerie zurückzuziehen. Kiew habe den Vorschlag abgelehnt. Das ukrainische Außenministerium rief Russland am Montag zu Verhandlungen über die Umsetzung des Minsker Abkommens auf.

Angeblicher Einsatz von 500-Kilogramm-Bomben

In der Nacht auf Montag wurden in Donezk durch die ukrainischen Angriffe neun Menschen getötet und vierzig verletzt, berichtete der Reporter des russischen Fernsehkanals Rossija 1. In zwei Bezirken der Stadt seien insgesamt 26 Klein-Kraftwerke zerstört worden, die Fernwärme für die Wohngebiete produzieren.

Auch die in der Donezk-"Republik" gelegenen Orte Gorlowka und Awdejewka wurden beschossen. Der Ministerpräsident der Donezk-"Republik", Sachartschenko, erklärte, über Gorlowka sei eine 500 kg-Bombe abgeworfen worden. In der Donezk-Republik gäbe es 30 Tote. Eine Bestätigung durch unabhängige Quellen für die 500-Kilogramm-Bombe gab es nicht. Derartige große Bomben wurden in den 1980er Jahren für die Sprengung von Mudschaheddin-Nestern in den Bergen Afghanistans konzipiert und würden jetzt in der Ost-Ukraine eingesetzt, behaupten russische Sicherheitsexperten.

Heftiges Artillerie-Feuer der ukrainischen Armee gibt es auch auf das Gebiet der LNR ("Volksrepublik" Lugansk). In der Stadt Lugansk war am Montag Artilleriefeuer zu hören. Für Aufregung in Kiew sorgten Fernsehbilder, auf dem ein Düsenflugzeug der "LNR-Luftwaffe" mit laufendem Triebwerk zu sehen war. Das Flugzeug vom Typ L-29 stammt aus tschechischer Produktion und gehörte einer Militärflugschule in Lugansk. Es sei mit Teilen anderer Flugzeuge instandgesetzt worden, um die Bürger der Stadt zu schützen, erklärte ein "LNR"-Sprecher.

In der Nähe von Debaltseve. ATO macht die Separatisten verantwortlich. Bild: ATO

Flughafen zurückerobert

Während viele Zivilisten in den Dörfern und kleinen Städten der "Volksrepubliken" sterben, ohne dass die internationalen Medien von ihnen Notiz nehmen, konzentriert sich das internationale Medieninteresse auf den Flughafen von Donezk. Um das symbolisch wichtige Objekt wird seit Mai fast ununterbrochen gekämpft. Der gesamte Flughafen, der 2011 für die Europa-Fußballmeisterschaft mit 875 Millionen Euro modernisiert wurde, gleicht inzwischen einer Trümmerwüste.

Zu welcher Einflusszone der Flughafen nach dem Minsker Abkommen gehört, ist umstritten. Das Außenministerium in Kiew meint, der Flughafen gehöre zur ukrainischen Einflusszone, das Außenministerium in Moskau meint, der Flughafen gehöre zur Donezk-"Republik".

Was passiert mit unseren "Helden" auf dem Flughafen von Donezk? Das scheint zur Zeit eine der wichtigsten Fragen in den ukrainischen Medien. Am vergangenen Donnerstag gab der Ministerpräsident der Donezk-"Republik", Aleksandr Sachartschenko, feierlich die Rückeroberung des Flughafens bekannt. Vor Fernsehkameras zeigte er eine blau-gelbe Flagge, welche die ukrainischen Soldaten zurückgelassen hatten, und erklärte: "Wenn sie kommen wollen, um bei uns zu sterben, kommen sie! Wenn sie mit uns Freundschaft schließen wollen, lasst uns Freundschaft schließen."

Sachartschenko besuchte letzte Woche den Flughafen von Donezk. Bild: dnr.today

Ende letzter Woche besuchte Sachartschenko das zerstörte Flughafengebäude (DNR-Video vom 17. Januar). Er ließ er sich mit Mitgliedern der Donezk-Spezialeinheiten "Motorola" und "Somali" filmen, lachte, sprach ein paar anerkennende Worte und schüttelte die Hände der bärtigen Eroberer. Der Besuch musste dann jedoch vorzeitig beendet werden, weil von ukrainischer Seite wieder geschossen und angeblich auch Gas eingesetzt wurde. Ein bärtiges Mitglied der Donezk-Spezialeinheiten erklärte, dass sich noch fünf Ukrainer in dem Flughafengelände versteckt halten. Die wollten nicht aufgeben. "Die kämpfen nicht für Geld, sondern für eine Idee. Die sind seit Anfang an dabei." Am Montag erklärte der Sprecher des ukrainischen Sicherheitsrates, Andrej Lysenko, dann, man habe "die Kontrolle über den Flughafen wieder hergestellt". Einzelheiten wurden nicht bekannt.

Verzweifelte Eltern

Die ukrainische Präsidialadministration muss sich immer wieder Vorwürfe anhören, dass sie sich nicht genug um die eigenen Soldaten kümmert. Juri Birjukow, Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, meldete sich am Montag per Facebook im Feldpost-Stil: "Guten Morgen. In tiefer Nacht wurde alle Verwundeten von dem neuen Terminal evakuiert und eine neue Rotation (der Soldaten) durchgeführt. Wir lassen die unseren nicht im Stich, niemand hat sie vergessen, niemand wurde verraten. Alles wird kommen, nur nicht sofort. Wir lernen."

Auf den Facebook-Eintrag folgten zum Teil bissige Kommentare wie: "Lernen muss man auf dem Truppenübungsplatz". In einem anderen Posting berichtete der Präsidentenberater, er sei 17 Mal von Eltern der Soldaten, die sich im Terminal des Flughafens befinden, beschimpft worden. Die Eltern befürchten vermutlich, dass man ihre Söhne für das Symbol "Flughafen Donezk" verheizt.

Nach drei Armee-Einberufungen im Jahre 2014 hat das ukrainische Verteidigungsministerium letzte Woche die vierte Teil-Mobilisierung für die ukrainischen Streitkräfte angekündigt. 50.000 Männer sollen in den nächsten Monaten eingezogen werden. Betroffen sind sowohl Wehrpflichtige als auch Reservisten.

Die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen, war letztes Jahr gering. Allein in elf Gebieten im Nord-Westen der Ukraine (unter Einschluss von Kiew) gab es 10.000 Deserteure. Wie das "Operative Oberkommando Nord" gegenüber dem Internetportal Korrespondent.net Mittel September 2014 mitteilte, entzogen sich 9.969 Personen der Mobilisierung. Viele junge Wehrpflichtige versteckten sich bei Verwandten, in Wäldern oder verlassenen Dörfern. Wer Geld hat, kauft sich vom Wehrdienst frei.

Russische Talk-Show trommelte für Donbass-Freiwillige

In den russischen Medien riefen die Angriffe auf Donezk heftige Reaktionen hervor. In der Talk-Show "Wladimir Solowjow" am Sonntag äußerten mehrere Teilnehmer, jetzt sei eine "massive Mobilisierung" russischer Freiwilliger nötig. Mehrere Talk-Show-Teilnehmer erweckten den Eindruck, dass ein "großer Krieg" bereits begonnen habe. Der Moderator der Talk-Show fragte, ob man nicht die männlichen Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine, die jetzt in Russland leben, auffordern solle, mit der Waffe in der Hand um "ihre Erde" in der Ost-Ukraine zu kämpfen.

In Kiew beteiligten sich am Sonntag 5.000 Menschen auf dem Platz der Unabhängigkeit an einem "Marsch des Friedens". Kundgebungs-Teilnehmer hielten Schilder mit der Aufschrift "Ich bin Wolnowacha". Damit erinnerten die Demonstranten, zu denen sich auch Präsident Poroschenko und Premier Jazenjuk gesellten, an die zwölf Menschen die am 13. Januar in einem Minibus in der Nähe eines ukrainischen Straßenkontrollpunktes getötet wurden. Kiew sagt, der Bus sei von einem Grad-Raketen-Werfer der Aufständischen getroffen worden. Die Aufständischen erklärten, der Bus sei von einer Mine zerstört worden. Für beide Versionen gibt es "Beweis"-Videos, die aber für eine eindeutige Ursachen-Analyse nicht ausreichen.

Der ukrainische Geheimdienstchef, Walentin Naliwaitschenko, erklärte am Sonntag, den Befehl für den Grad-Beschuss habe der Premierminister der Donez-"Republik" persönlich gegeben, "um die friedliche Bevölkerung einzuschüchtern". Es gäbe Aufnahmen "entsprechender Telefongespräche". Diese wurde aber nicht veröffentlicht. Die Grad-Beschießung soll nach Angaben der OSZE aus dem Nord-Osten erfolgt sein. Doch dort ist die Frontlinie unklar.