70 Jahre Auschwitz-Befreiung

Die Botschaft hinter dem Gästeliste-Geschacher

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Es ist beschämend, dass die Gedenkfeier zum 70sten Jahrestag der Auschwitzbefreiung von allen Seiten zu PR-Zwecken ausgeschlachtet wird (Politischer Missbrauch von Auschwitz). Im Hinblick auf die historische Bedeutung dieses Ereignisses ist es völlig nebensächlich, wer wann welche diplomatischen Verrenkungen gemacht hat, um wen nicht einladen zu müssen, zu sollen, zu wollen, zu können.

Eine aktuelle Meldung der polnischen Nachrichtenagentur pap genügt, um die Nebelschwaden dieser ganzen Wer-ist-schuld-Diskussion auf die Sphäre der Realpolitik zu kondensieren: Die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz hat ihren ukrainischen Amtskollegen Poroschenko persönlich und ganz öffentlich zur Auschwitz-Gedenkfeier eingeladen. Kopacz hat "ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen", dass Poroschenko zur Gedenkfeier kommt. "Ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie uns beehren [...]" wird sie zitiert. Und Poroschenko ist natürlich gekommen.

Dennoch beachtenswert ist das Geschacher um die Auschwitz-Gedenkveranstaltung deshalb, weil es uns eine traurige Entwicklung offenbart und zeigt, wie tief alle Konfliktparteien mittlerweile gesunken sind.

Putin hat sich die meiste Zeit seines Politikerlebens in Richtung Europa orientiert. Er teilte Gorbatschows Vision vom "gemeinsamen europäischen Haus" und hatte die (natürlich nicht uneigennützige) Hoffnung, die EU würde sich tendenziell von den USA emanzipieren und zunehmend gemeinsame Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen mit Russland entwickeln. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Putins Rede vor dem deutschen Bundestag am 25. September 2001.

Die USA zeigten sich über solche Bestrebungen alles andere als amused und sind dazu übergegangen, eine dann doch etwas zu freundschaftliche EU-Russland-Annäherung über die Schiene der NATO-Osterweiterung zu torpedieren. Russland hat die NATO-Osterweiterung (die sie anfangs noch mittrug), mehrfach beklagt - insbesondere weil sich der Westen immer weniger an partnerschaftlichen Absprachen interessiert zeigte und die zunächst beschworene gemeinsame Sicherheitsarchitektur zu Gunsten einseitiger NATO-Interessen vernachlässigte.

Treibende Kraft waren dabei nicht die "alten" EU-Staaten, sondern die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten im Schulterschluss mit den USA. Dass Putin die Abkehr der NATO von Agreements und (Abrüstungs-)Abkommen nicht im Stil eines dauerbetrunkenen Jelzin schlucken würde, machte er spätestens mit seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 deutlich. Jedem Beobachter und Akteur musste klar sein, dass spätestens beim NATO-Zugriff auf die Ukraine Schluss-mit-lustig sein würde.

Die offizielle Erzählung, dass es beim Griff des Westens nach der Ukraine in erster Linie um eine EU-Mitgliedschaft ginge, kann kein halbwegs rational denkender Mensch ernst nehmen. Wir alle kennen die riesigen Probleme innerhalb der EU - der Gedanke, sich mit der politisch und wirtschaftlich desolaten Ukraine einen zusätzlichen Riesenklotz ans Bein zu binden, ist vollkommen kontraproduktiv, um nicht zu sagen: irrsinnig. Alle noch lebenden Politiker-Granden, die jahrzehntelang für eine Entspannung zwischen Ost und West gearbeitet haben - von Kohl über Schmidt und Gorbatschow bis Bahr, Genscher und sogar Kissinger - haben sich unter Hinweis auf die dreiste Ignoranz russischer Interessen negativ bis empört über die jüngste Ukraine-Politik des Westens geäußert.

Aber zurück zu Putin: Am 1. August 2013 beschädigte er Russlands Verhältnis zur USA enorm, indem er einem US-polizeilich gesuchten Ex-NSA-Mitarbeiter, Edward Snowden, Asyl gewährte. Mit dieser Aktion verschaffte er sich vielerorts Respekt, sollte er jedoch auf den (stillen) Beifall der EU gehofft haben, hat er sich gründlich verrechnet: Nur wenige Monate später nutzten die Europäer die Olympischen Winterspiele in Sotschi (7. bis 23. Februar 2014) um ihre Verachtung gegenüber Russland zu demonstrieren. Putin wollte dieses Sportevent nutzen, um Russland als weltoffene Nation zu präsentieren. Die zeitlich darauf abgestimmte Amnestie für Chodorowski und Pussy Riot sollte als großzügige Geste ein Zeichen setzen.

Doch es kam ganz anders: Während die europäische Presse weniger über friedliche Spiele als über russischen Schwulenhass zu berichten wusste, zerstörten die wichtigsten EU-Repräsentanten, allen voran Gauck und Merkel, den pro-russischen PR-Effekt durch ihren Olympia-Boykott.

Dann eskalierten am 18. Februar 2014 die Ereignisse in der Ukraine. Janukowytsch flüchtete nach Russland, und am 1. März wurde das Unabhängigkeitsreferendum für die Krim angekündigt. Im Rückblick ist es verblüffend, in welch weiser Voraussicht unsere NATO-Politiker der Sotschi-Olympiade bereits Anfang Dezember 2013 eine Absage erteilt hatten. Hier erscheint die Reihenfolge von Ursache und Wirkung irgendwie vertauscht - aber das ist eine andere Geschichte.

Im März 2014 sollte, ebenfalls in Sotschi, ein G8-Forum stattfinden. Obwohl Obama und Co. dieses Treffen abgesagt hatten (was für eine Gedankenwelt steckt hinter der Überzeugung, gerade in Krisensituationen Gesprächsmöglichkeiten ausschlagen zu sollen?), reiste Putin noch im Juni zu den D-Day-Feierlichkeiten nach Frankreich und schüttelte dort zur Überraschung aller Beobachter Poroschenko die Hand.

Ende September bezeichnete Obama in seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung die russische Aggression als eine der drei größten Menschheitsgefahren neben Ebola und dem IS.

Beim G20-Gipfel im November berichtete die deutsche Presse genüsslich und schadenfroh, dass der russische Präsident von den anwesenden Politikern gemieden werde und angeblich alleine an einem Tisch sitzen müsse. Putin verließ dieses Spitzentreffen vorzeitig (mit der Begründung, er habe am Montag zu arbeiten) - und spätestens dann hat er den Spieß umgedreht.

Da Russland eben genau keine lupenreine Demokratie ist, konnte er sehr schnell handeln. Nur wenige Tage später hat Gazprom völlig überraschend das Southstream-Projekt gestoppt. Die EU hatte bezüglich Southstream jahrelang mit Russland Spielchen gespielt, in der irrigen Annahme, sie könne die Bedingungen diktieren, weil Russland dieses Projekt um jeden Preis durchziehen wolle. Nun haben wir die Situation, dass die Southstream-Pipeline in der Türkei endet - und genau dorthin geht jetzt auch dieser Teil des russischen Gases. Die EU schaut in die Röhre. Im Zuge der Vereinbarung mit den Türken plant Russland auch das erste Atomkraftwerk auf türkischem Boden.

Innerhalb kürzester Zeit hat Russland seine komplette Außenorientierung radikal neu geordnet - vielleicht zum eigenen Schaden, auf jeden Fall aber zum Schaden der EU. Vorläufiger Höhepunkt ist die Ausweitung der militärischen Zusammenarbeit mit dem Iran.

Man muss für Putin keinerlei Sympathien hegen. Obwohl er ein rationaler und im Zweifel auch kaltblütiger Stratege ist, scheint er vor allem auch ein stolzer Macho zu sein. Wenn unsere EU-Politiker einen Funken psychologischen Verstand hätten, müsste sie das freuen, denn ein rational agierender Macho ist relativ gut berechenbar: Man muss ihm entgegenkommen und seiner Gesichtswahrung oberste Priorität einräumen.

Man hätte ihn z. B. - und da sind wir beim Ausgangspunkt - ganz öffentlich und förmlich zur Auschwitz-Gedenkfeier einladen können. Das wäre eine von vielen hilfreichen und konstruktiven Entspannungsmaßnahmen gewesen. Das unrühmliche diplomatische Gezerre um diese dafür viel, viel zu ernste Veranstaltung dauerte schon seit Monaten an. Einiges deutet darauf hin, dass der Westen tief in die diplomatische Trickkiste gegriffen hat, um Putin dezent seine Unerwünschtheit zu nahezulegen. Aber Putin drehte auch hier den Spieß um. Er markiert den Chef im Ring und gibt zu verstehen: "Wer nicht will, der hat schon gehabt! Dann spricht in Auschwitz eben nicht die Befreiernation (Putin), sondern die Betreibernation (Gauck)!"

Große europäische Staatskunst bestünde jetzt darin, Putin zu vermitteln, dass man mit ihm gemeinsam den Karren heraus ziehen möchte, der sich immer tiefer in den Dreck hinein gäbt. Einige der größten politischen Menschheitskatastrophen resultierten daraus, dass die Verantwortlichen Stärke mit Schwäche verwechselten und nicht den Mumm hatten, eigene Fehleinschätzungen einzugestehen und mit aller Kraft und allem Geschick zurückzurudern.

In unserem ureigensten friedenspolitischen und wirtschaftlichen Interesse müssen wir mit Russland einen Neuanfang auflegen. Die Kalte-Kriegs-Politik des letzten Jahres war ein riesiger Irrtum, dessen Folgen wir heute noch gar nicht überblicken können - und wer nicht fähig ist, aus seinen Fehlern rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, wird in der Regel bitter bestraft.