Die List der Vernunft

Warum wir dem Handelsblatt im Nachhinein für die Paperboy-Klage dankbar sein müssen (oder vielleicht auch nicht)

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Aus Deutschland kamen in letzter Zeit eher wenige Medieninnovationen. Das hat in der Nation, die das Leistungsschutzrecht für Presseverlage und Abmahnen als Geschäftsmodell erfunden hat, unter anderem juristische Gründe. Solche juristischen Gegebenheiten waren es auch, die dazu führten, dass sich Felix von Leitner heute nicht auf den Milliarden ausruht, die ihm Google vielleicht für die von ihm erfundene Nachrichtensuchmaschine Paperboy gezahlt hätte, wenn die Startup-Firma nicht vom Handelsblatt verklagt worden wäre. Deren Geschäftsführer und Juristen glaubten, Links und Hinweise auf ihre Artikel seien nicht in erster Linie Werbung, sondern Konkurrenz - und klagten so lange, bis ihnen (wie Markus Kompa es formulierte) "die Richter am BGH […] erklärten, wie das Internet funktioniert". Unmittelbar nach der Urteilsverkündung ging dann Google News online.

Felix von Leitner stellte am 31. März 2005 - vor genau zehn Jahren - trotzdem eine regelmäßige Nachrichtensammlung ins Netz. Sie war (anders als Paperboy das sein sollte) nicht so gestaltet, dass man mit ihr Geld verdienen konnte - aber vielleicht gerade deshalb inhaltlich interessant. Und sie entwickelte sich zu etwas, in das man bei Telepolis jeden Morgen genauso selbstverständlich hineinsieht wie in Google News oder die Twitter-Timeline. Hegel hätte diese unabsehbare Entwicklung etwas Größerem aus einer Niederlage eine "List der Vernunft" genannt. Aber vielleicht hätte es Fefes Blog ja auch gegeben, wenn Paperboy nicht vom Handelsblatt verklagt worden wäre. Wer weiß das schon im Nachhinein.

In Fefes Blog (dessen Layout sich wählen lässt) zeigte der Programmierer in jedem Fall, dass er nicht nur zu technischen Innovationen fähig war, sondern auch zu stilistischen: Mit oft nur ein bis zwei Sätzen umriss er eine Nachricht nicht bloß, sondern zeigte gleichzeitig noch, was das Groteske, Widersprüchliche oder sonstwie Bemerkenswerte daran war. So wurde er bald zu einer unersetzlichen Hilfe, wenn es darum ging,in anderen Medien vernachlässigte Themen zu finden und dort weiter zu recherchieren. Das galt unter anderem für Polizeiübergriffe, zu denen man das Blog spätestens seit den dort veröffentlichten Videoaufnahmen zur Freiheit-statt-Angst-Demonstration 2009 auch in den Mainstreammedien regelmäßig konsultiert.

Nicht alles, was Fefe von Lesern zugeschickt bekommt und - häufig augenzwinkernd - verlinkt, hält einer Recherche stand. Aber bemerkenswert vieles, was vor zehn Jahren außerhalb des Blogs (und des Chaos Computer Clubs, in dem Fefe Mitglied ist) als Verschwörungstheorie abgetan wurde, gilt heute als anerkannte Tatsache: Allem voran die Totalüberwachung der elektronischen Kommunikation durch den US-amerikanischen Geheimdienst NSA, den dessen ehemaliger Mitarbeiter Edward Snowden 2013 in einer Weise enthüllte, die auch den Mainstream auf die Problematik aufmerksam machte.

Ähnliches gilt für die Arbeitsweise von Banken, die erst nach und nach einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. Und für die Politik der NATO, der EU, der Bundesregierung und anderer politischer Akteure. Als sehr hellsichtig erwies sich Fefe auch in der Einschätzung der Piratenpartei, deren gravierende Personalprobleme er deutlich früher erkannte als alle anderen Medien.

Seine Distanz zu den Objekten seiner Berichte und Analysen macht Felix von Leitner kenntlich, indem er konsequent pejorative Ausdrücke verwendet: Die SPD (die sich trotz einer Anfrage von Telepolis nicht zum Jubiläum von Fefes Blog äußern wollte), ist bei ihm die "Verräterpartei" und die CDU die "schwarze Pest". Das ist nicht ganz BBC-Ton, zeigt aber eine Unabhängigkeit, die es in große Zeitungen (und vor allem in öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern) nicht gibt.

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