"Philosemitismus ist keine Antwort auf die Probleme in Nahost"

Bild: Justin McIntosh/CC BY 2.0

Gespräch mit Rolf Verleger über Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee

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Eine soeben unter dem Titel "Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee. Eine Spurensuche" veröffentlichte Untersuchung des inzwischen emeritierten Professors für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung, Wilhelm Kempf, geht der Frage nach Erscheinungsformen und Ausprägungen des Antisemitismus im Lande nach - und kommt zu überraschenden Ergebnissen. Telepolis sprach hierzu mit Rolf Verleger, der Kempfs von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstütztes Projekt als wissenschaftlicher Berater begleitet hat.

Herr Verleger, über den Antisemitismus im Land wird viel diskutiert und publiziert. Unlängst forderte Israels Premier Netanjahu die europäischen Juden sogar dazu auf, um ihrer eigenen Sicherheit Willen nach Israel auszuwandern. Es scheint also schlimm bestellt zu sein um die "Judenfeindlichkeit" der Europäer im Allgemeinen und der Deutschen im Besonderen - so schlimm wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr?

Rolf Verleger: Ach, Netanjahu … er spielt sich als Problemlöser auf; dabei ist Israel doch wesentlicher Teil des Problems.

Nein, Vorurteile gegen Juden wie auch gegen Muslime, Ausländer und alles, was irgendwie anders ist, bestehen in Deutschland wie in anderen Ländern stabil in einem Segment der Gesellschaft. Damit kann man einigermaßen leben, solange die große Mehrheit der Bevölkerung, Medien und Politik für Menschenrechte eintreten und zudem glaubhaft bedauern, was Deutschland unter Hitler angerichtet hat.

Daran hat sich in den letzten Jahrzehnten nichts geändert. Das war kurzzeitig Anfang der 90er anders, als das Asylrecht abgeschafft wurde, es die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gab, die Familien Genç und Arslan in Solingen und Mölln und die Asylbewerber in der Lübecker Hafenstraße durch Brandstiftung starben und auch die Lübecker Synagoge angebrannt wurde.

Nichts dergleichen spielt sich heutzutage ab. Dies ist kein Anwachsen von Fremdenhass, sondern ein Einfordern von Menschenrechten. Denn was sich geändert hat, ist die Einstellung zu Israel. Das deutsche Bedauern der Nazi-Verbrechen und Abgrenzen vom "Dritten Reich" umfasste in der Vergangenheit wie selbstverständlich eine Unterstützung Israels.

In den letzten Jahren wird wegen Israels hemmungsloser Unterdrückung der Palästinenser aber immer offensichtlicher, dass Unterstützung von Menschenrechten und Unterstützung Israels nicht zusammenpassen. Mangels besserer Argumente unterstellt jetzt die Israel-Lobby den Leuten "Antisemitismus", wenn sie sich gegen Israel auf die Seite der Menschenrechte und der unterdrückten Palästinenser stellen.

Rechte, Israelfreunde und Palästinafreunde

Und diese Einschätzung findet sich auch in Kempfs Untersuchungen wieder? Welches Bild zeichnet dieselbe denn vom Antisemitismus im Land?

Rolf Verleger: Die Frage, ob und wie Antisemitismus und Kritik an Israels Politik in der deutschen Bevölkerung zusammenhängen, ist das zentrale Thema dieser 2010 durchgeführten und jetzt als Buch veröffentlichten Studie.

Untersucht wurde eine große repräsentative Stichprobe mit einem gängigen "Antisemitismus"-Fragebogen, dann aber auch mit Fragebögen zur Einstellung zum Zionismus und zu Israel und schließlich - das ist das Besondere an der Studie - auch noch mit Fragen zu weiteren Bereichen: Einstellungen zum Islam, zu Menschenrechten und Gewalt, Krieg und Frieden, Kenntnisse und persönliche Verbundenheit zu Israel und Palästina.

Aus gemeinsamen Antwortmustern auf all diese Fragen bildeten sich drei Gruppen heraus - aus insgesamt 90 Prozent der Stichprobe; die Meinungen der restlichen 10 Prozent zu diesen Fragen ließen sich nicht einordnen:

  1. "Rechte" - 26 Prozent der Stichprobe - haben konsequent und durchgängig Vorbehalte gegen Zionismus und Juden, und ungefähr genauso stark auch gegen die Palästinenser und den Islam. Sie halten relativ wenig von Menschenrechten, haben mäßige bis wenige Kenntnisse des Nahostkonflikts und beziehen in diesem ihnen nicht sehr wichtigen Konflikt eher Partei für Palästina als für Israel.
  2. "Israelfreunde" - 26 Prozent der Stichprobe - nehmen Partei für Israel und befürworten zumeist auch die Anwendung von Gewalt gegen die Palästinenser. Ihre Kenntnisse und ihre persönliche Betroffenheit durch den Konflikt liegen im mittleren Bereich, ebenso ihre Werte auf den Antisemitismusskalen - selbstverständlich niedriger als die der "Rechten".
  3. "Palästinafreunde" - 38 Prozent der Stichprobe - nehmen überwiegend Partei für Palästina, sind überwiegend pazifistisch eingestellt, und liegen bei den Vorbehalten gegen Juden, Palästinenser und Islam deutlich niedriger als die "Israelfreunde". Sie halten generell die Menschenrechte hoch und haben die größten Kenntnisse des Konflikts.

Habe ich Sie richtig verstanden: Die, wie Sie sie nennen, "Israelfreunde" sind laut den Befragungen antisemitischer als die "Palästinafreunde"?

Rolf Verleger: Ja, so kam es heraus: Die "Israelfreunde" in der deutschen Bevölkerung liegen in der Mitte zwischen den "Rechten", die relativ viele Vorbehalte gegen Juden - und Moslems übrigens auch - haben, und den "Palästinafreunden", die wenige Vorbehalte haben.

Ähnlich verhält es sich bezüglich der Kenntnisse und der emotionalen Betroffenheit durch den Konflikt: Die "Israelfreunde" liegen in der Mitte zwischen "Rechten", die der Konflikt wenig interessiert, und den "Palästinafreunden", denen der Konflikt persönlich nahegeht. Mit einem Wort: Die "Israelfreunde" sind die laue Mitte.

"Man kann den Blick dafür verlieren, dass alle Menschen gleiche Rechte haben"

Und wie erklären Sie sich das? Dass die Verteidiger und Beschützer Israels "antisemischer" als ausgerechnet die "Palästinafreunde", denen ja tagtäglich Antisemitismus testiert wird, sind?

Rolf Verleger: Für die "Israelfreunde" spielen Menschenrechte in ihren Antworten nicht dieselbe übergeordnete Rolle wie für die "Palästinafreunde". Dazu passt eben auch, dass sie mehr Vorbehalte gegen andere mit sich herumtragen.

Unabhängig von dieser Umfrage - also mehr spekulativ - stellt sich das für mich so dar, dass die Israelfreundschaft der deutschen Politik seit Adenauer sich aus Bündnistreue zu den USA speist und aus schlechtem Gewissen wegen des fehlenden Widerstands gegen Hitler in Sachen Ausrottung des Judentums. Beide Motive sind nicht unehrenhaft. Aber sie können dazu führen, dass Juden zu einer besonderen Menschengruppe verklärt werden.

In der Tat scheint mir manchmal bei den "Israelfreunden", die ich kenne - vor allem Politiker, wie sie in den Medien auftreten - auch ein Philosemitismus mitzuschwingen, der insofern dem Antisemitismus gleicht, als dass er "die Juden" als eine besondere, einheitliche Gruppe ansieht, denen die deutsche Politik verpflichtet sei, sodass auch Israel zu "schützen" sei.

Es ist dann nicht immer unbedingt klar, dass ein jüdischer Israeli genauso viel wert ist wie ein Palästinenser; bei Hitler wären die Juden weniger wert gewesen, heute scheinen sie mehr wert zu sein. Das heißt: Man kann den Blick dafür verlieren, dass alle Menschen gleiche Rechte haben.

Das Verhältnis zur Gewalt und Kenntnisse des Konflikts

Und was bedeutet es, wenn den Untersuchungen zufolge diese "Israelfreunde" eine gewaltsame Behandlung des Nahost-Konfliktes präferieren? Welches Bild zeichnete sich da im Detail?

Rolf Verleger: Das Verhältnis zur Gewalt erwies sich als wesentlicher Faktor für die Gruppenunterscheidung: Für "Israelfreunde" ist - zu Recht - klar, dass sich der Nahostkonflikt im Sinne Israels nur mit Gewalt unter Kontrolle halten lässt. Frieden ist daher in diesem Weltbild von untergeordneter Bedeutung.

Auch daraus ergibt sich ein Kommentar zur deutschen Politik: Deren offizielle Position, sowohl Israel zu unterstützen als auch den Konflikt friedlich lösen zu wollen, ist in der realen Meinungswelt der Bevölkerung kaum vorhanden und in der Tat wahrscheinlich wirklich ein Luftschloss.

Verstehe ich recht, ich spitze ein wenig zu: Jene, die oft am lautesten "Für Israel!" schreien, verfügen - alle moralische Überhöhung und ideologische Ummäntelung dieser Tatsachen einmal ganz außen vor - den Studienbefunden zufolge und in Abgrenzung zu jenen, die Sie als "Palästinafreunde" klassifizieren, in aller Regel über weniger Kenntnisse vom Konflikt, mehr Vorurteile und Gewaltbereitschaft, und neigen zudem zu Philosemitismus und also einem Weltbild, das auf der Ungleichheit von Menschen beruht?

Rolf Verleger: Ja, so stellt sich das dar. Deswegen hätte ich als Nachbarn und Kollegen lieber "Palästinafreunde" als "Israelfreunde", nämlich lieber Leute, für die ein friedliches Miteinander und Menschenrechte wichtige Werte sind; und so ist es glücklicherweise auch mit meinen Nachbarn und Kollegen, und das deckt sich mit dem Ergebnis der Umfrage: Die Deutschen sind mehrheitlich nicht "Israel-", sondern "Palästinafreunde". Das gibt zu Hoffnungen Anlass.

Gleichberechtigung der nichtjüdischen und jüdischen Israelis

Und die ganzen Anwürfe, die neuerdings immer öfter durch die Medien geistern - es gäbe "selbsthassende" und also antisemitische Juden; das deutsche Kabarett sei ein Hort des Antisemitismus etc. pp. -, wie sind die in diesem Kontext einzuordnen und zu verstehen? Was halten Sie von derlei Argumentation?

Rolf Verleger: Nichts. Das sind Schutzbehauptungen der Israel-Lobby, weil ihnen die Argumente ausgehen. Alle Bildzeitungs-Schlagzeilen und Talk-Runden über die Gefahr eines neuen Antisemitismus lenken von diesem wesentlichen Punkt ab: Bedingungslose Unterstützung Israels bedeutet ein "Nein" zu Menschenrechten.

Wovor ich Angst habe, ist, dass diese Israelfreunde in Politik, Medien und Vertretungsorganen der jüdischen Gemeinschaft durch ihre bedingungslose Solidarität mit der Politik Israels den von ihnen beklagten Antisemitismus schließlich selbst produzieren: Wenn Juden und ihre Freunde das Judentum so definieren, dass es Solidarität mit Israel als wesentlichen Bestandteil hat, dann wird die berechtigte Empörung über Israel logischerweise zu Ressentiments gegen das Judentum führen. Das möchte ich nicht, und darum halte ich es für jüdische Pflicht, sich scharf von Israels Irrtümern abzusetzen.

Und welche Schlüsse legen die Untersuchungen von Kempf nahe: Was wäre ggf. auch von deutscher Seite aus am sinnvollsten zu tun, wenn man den Geschehnissen in Nahost nicht länger tatenlos zusehen will? Was rieten Sie, würden Sie gefragt?

Rolf Verleger: Deutschland wird in Israel als wichtigster Bündnispartner neben den USA angesehen, hat also beträchtlichen Einfluss. Oberstes Ziel dieses Einflusses sollte sein, bei den israelischen Partnern ein Unrechtsbewusstsein zu fördern für das, was von Israel den Palästinensern von 1947 bis heute angetan wurde. Denn der Schlüssel für eine positive Zukunft ist, dass Israel die Palästinenser für all dies um Verzeihung bittet.

Zur Förderung dieses Unrechtsbewusstseins werden gute Ratschläge allen aber nicht reichen. Deutschland sollte daher seine umfassende wirtschaftliche, kulturelle, militärische Unterstützung Israels an Bedingungen knüpfen, die letztlich ein selbstverständliches Ziel haben: Gleichberechtigung der nichtjüdischen und jüdischen Israelis im ganzen von Israel beherrschten Gebiet.

Gleichberechtigung von Juden und Nichtjuden im ganzen von Israel beherrschten Gebiet würde aber bedeuten, dass Israel nicht mehr ein mehrheitlich jüdischer Staat ist...

Rolf Verleger: Israel ist mit seinen beherrschten Gebieten bereits jetzt nicht mehr mehrheitlich jüdisch. Und Gleichberechtigung bedeutete auch etwas ganz anderes, nämlich dass die Diskriminierung von Nichtjuden auf allen Ebenen dieses Staats aufhört. Dies könnte zur Folge haben, dass dann eben auch die gewählte Regierung nicht mehr unbedingt von jüdischen Israelis gestellt wird. Wenn Israel das nicht will, dann könnte es konstruktive Vorschläge machen, wie das anders geregelt werden könnte.

Der Weg der Oslo-Verträge war ein solcher Versuch, aber er ist an der destruktiven Haltung Israels gescheitert, das sich auf den Standpunkt stellt: "Das ganze Land und noch viel mehr ist jüdisch; die Araber sollen weg oder den Mund halten". Nun ist es an uns auf der Welt, zusammen mit jüdisch-israelischen und palästinensischen Aktivisten die Gleichberechtigung aller Menschen auch in unserem westlichen Bündnisland Israel-Palästina durchzusetzen.

Prof. Dr. rer. soc. Rolf Verleger ist Psychologe an der Universität Lübeck. Während seiner Mitgliedschaft im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland 2005-2009, als Delegierter Schleswig-Holsteins, setzte er sich von der unkritischen Unterstützung Israels durch die deutsche jüdische Gemeinschaft ab. Er schrieb unter anderem das Buch Israels Irrweg. Eine Jüdische Sicht.