Wie man eine Finanzkrise auf die Bevölkerung eines gebeutelten Landes abwälzt

Acht Dinge über die griechische Schuldenkrise, die Angela Merkel Dir nie erzählen würde

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1. Die griechische Schuldenkrise hat mit Griechenland wenig zu tun. Statt dessen viel mit dem politischen Projekt der Integration der europäischen Finanzmärkte...

Merkel betont gerne, Griechenland hätte über seine Verhältnisse gelebt und die griechische Regierung hätte ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Dass Griechenland 2001- 2008 über seine Verhältnisse gelebt hätte, ist bis dahin aber niemandem aufgefallen. Im Gegenteil: Griechenlands Wirtschaftswachstum war im innereuropäischen Vergleich außerordentlich, Griechenlands Entwicklung wurde als Beispiel dafür gefeiert, wie der Euro es den ärmeren Ländern ermöglicht, an die reicheren Länder anzuschließen, und Analysten, etwa des IWF, hatten keinerlei Bedenken, dass sich die Wachstumsaussichten Griechenlands in der mittleren Frist weiterhin im deutlich positiven Bereich bewegen würden.

Dies führte auch dazu, dass internationale Banken - besonders europäische, und allen voran deutsche und französische - ihre Kreditvergabe und ihre an die griechische Volkswirtschaft und ihre Investitionen in Schuldpapiere deutlich ausweiteten. Dieser Investmenboom war aber nicht nur dem Profitkalkül der Banken geschuldet. Denn die Integration der europäischen Finanzmärkte, die bereits in den 1980er Jahren begann, um der US-amerikanischen Dominanz im Finanzsektor eine europäische Antwort entgegenzustellen, gehörte zu den wesentlichen Zielen der Schaffung der europäischen Währungsunion.

Das Verschwinden von Währungsrisiken, die Verfügbarkeit einer Vielzahl an europäischen Staatsanleihen, die implizite Annahme, die Eurozone und die EZB würden die Mitgliedsstaaten im Falle Zahlungsproblemen in jedem Fall unterstützen, sowie einige institutionelle Regelungen der europäischen Zentralbank1 machten die Währungsunion zu einem der wichtigsten Vehikel zur Integration der Finanzmärkte - und zu einem europäischen Finanzboom.

Diese Entwicklung war aber nicht nur gewollt, um europäischen Banken in der Konkurrenz mit amerikanischen den Rücken zu stärken, sondern auch, weil man davon ausging, diese Regelungen würden für die europäischen Staaten, Banken, Unternehmen und Haushalte den Zugang zu Kredit verbilligen. Genau das taten sie auch, für eine Zeit lang. Es kam zu der historisch einmaligen Situation, dass die Staatsanleihen aller Euro-Mitgliedsländer zum gleichen Zinssatz gehandelt wurden - was, zumindest nach den ökonomischen Lehrbüchern, bedeutet, dass das Risiko dieser Anlagen genau gleich niedrig eingeschätzt wurde.

Und so nahm die Verschuldung der europäischen Volkswirtschaften lange zu - in Griechenland von ca. 180 % 1999 auf ca. 280 % 2008 (und das ist noch niedrig; Spaniens Gesamtverschuldung stieg im gleichen Zeitraum von etwa 200 auf 500% an).2 Diese Zunahme ging, zumindest in Griechenland, jedoch nicht auf den Staatshaushalt zurück. Dessen Verschuldung war, gemessen am BIP, zwar hoch, aber konstant, und schwankte 2001-2008 zwischen 105 und 110%. Der Anteil des Staats an der Gesamtverschuldung schrumpfte demzufolge von ca. 65% auf 40%; der Anstieg war vor allem von Finanzinstituten, Unternehmen, und Haushalten getragen.

Aufgrund der als gering eingeschätzten Risiken, der niedrigen Zinsen auf diese Schulden, und aufgrund eines generellen Optimismus über die europäische Wirtschaftslage, wurde diese Schuldenentwicklung jedoch nicht als problematisch angesehen. Selbst wenn Griechenland damals also "über seine Verhältnisse gelebt" hat, oder vielmehr, einen schuldenfinanzierten Wachstumsschub mit zweifelhafter Nachhaltigkeit erlebt hat, so hat ganz Europa applaudierend, und händereibend, dabeigesessen.

In dieser Zunahme der Gesamtverschuldung der europäischen Ökonomien profitierten die Banken der europäischen Kernländer auch von einem ganz besonderen System des "Carry-trade" - sie verschuldeten sich gegenüber dem nicht-europäischen Ausland, um noch mehr Schuldscheine in der europäischen Peripherie erwerben zu können.3 Diese Form der "Hebelung" - also der Investition in riskante Produkte mit geliehenem Geld, um die eigene Profitmarge zu erhöhen - trug entscheidend zur Instabilität der Finanzmärkte im Vorkrisenzeitraum bei und sollte eine entscheidende Rolle im Verlauf der Krisenpolitik spielen.

2. … und mit der internationalen Finanzkrise

Als 2007 die Finanzkrise in den USA begann, 2008 auf die Finanzmärkte in Europa überschwappte und 2008/2009 auch die "Realwirtschaft" erfasste, kam es dann zu der negativen Kausalkette, die Griechenland in den Abgrund stürzte. Die Krise hatte ihre unmittelbare Ursache am US-Hypothekenmarkt. Als dieser einzubrechen begann, brach Panik aus - manche Sicherheiten wurden plötzlich "toxisch", denn sie konnten auf dem offenen Markt nicht mehr verkauft werden und waren das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt waren; andere Sicherheiten wurden einer neuerlichen, viel kritischeren Überprüfung unterzogen.

Die Banken liehen sich gegenseitig kein Geld mehr, weil sie den "Sicherheiten" nicht mehr trauten, die ihnen die anderen Banken hinterlassen wollten, und plötzlich war ein ganzer Sektor in massiver Zahlungsnot. Zum Glück für die Banken schnürten die Staaten massenhaft Rettungspakete und nahmen selbst neue Schulden auf, um die Schulden der Banken zu begrenzen. Diese Schuldenaufnahme musste noch verstärkt werden, als die Finanzkrise auf die Industrie und den Handel übergriff, da sinkende Steuereinnahmen sich mit erhöhten Staatsausgaben (Konjunkturpakete, größere Arbeitslosigkeit) paarten.

Somit fiel die steigende Staatsverschuldung gerade in die Zeit, als die Banken den ersten Sturm durch die kräftigen Finanzspritzen des Staates zwar gerade so überwunden hatten - in der sie aber noch lange nicht stabil waren, ihre Bilanzen nach unten korrigieren mussten, und ihr Eigenkapital erhöhen mussten. Das war der Zeitpunkt, an dem die Finanzmärkte plötzlich wieder anfingen, einen Unterschied zwischen den europäischen Staatsanleihen zu machen.

Griechische Ankündigungen, die eigentliche Staatsschuld sei höher als bisher offiziell zugegeben - die griechische Regierung hatte durch Finanztricks mit Hilfe von US-Investmentbanken einen Teil ihrer Schulden vor den europäischen Behörden versteckt4 -, die Höhe der griechischen Staatsschuld vor der Krise, und der schnelle Anstieg seit Ausbruch der Krise trugen dazu bei, dass es zunächst vor allem Griechenland traf. Zweifel an der "Nachhaltigkeit" der griechischen Schulden - also der Fähigkeit Griechenlands, die Schulden durch eigenes Einkommen statt durch die Aufnahme neuer Schulden zu finanzieren - setzten ein; die Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit des Landes herab, und Spekulanten begannen, auf fallende Preise von griechischen Staatsanleihen zu wetten5, wodurch die Geschwindigkeit, mit der sich das Problem ereignete, massiv beschleunigt wurde. Die griechischen Staatsschulden wuchsen auf 127% des BIP in 2009 und auf 147,8% in 2010.

Der oben erwähnte "carry trade" machte die griechischen Staatsanleihen zu den toxischen Papieren des europäischen Finanzsektors - denn um die Kredite an ausländische Banken abzubezahlen, die aufgenommen wurden, um mehr Staatsanleihen zu kaufen, mussten die Banken so schnell wie möglich ihre "toxischen", im Preisverfall befindlichen, Staatsanleihen verkaufen, um wenigstens noch so viel wie möglich des ursprünglichen Preises zu retten. Durch die massiv steigenden Zinsraten auf ihre Staatspapiere wurde es für die Krisenländer, allen voran Griechenland, immer schwerer, sich zu refinanzieren, während die Schuldenlast und der Teil des Staatshaushaltes, der in den Schuldendienst floss, immer schneller anstieg. Dies löste eine Negativspirale aus, die fast nichts mit der griechischen Wirtschaft und fast alles mit dem europäischen Bankensystem und der globalen Finanzkrise zu tun hat.