"Wohlstand", Kapitalrendite und das gute Leben

Giacomo Corneos Konzept des "Aktienmarktsozialismus"

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Der Berliner Professor für Volkswirtschaftslehre Giacomo Corneo legt mit Bessere Welt? eine Übersicht über verschiedene Vorschläge vor, die eine Alternative zum Kapitalismus beabsichtigen. Er versammelt auf gut lesbare Weise die großenteils "klassischen" Bedenken u. a. gegen Gütergemeinschaft, Kropotkins anarchistischen Kommunismus, die Planwirtschaft der Gesellschaften sowjetischen Typs und des jugoslawischen "Selbstverwaltungssozialismus". In Absetzung von diesen Modellen formuliert Corneo sein eigenes, den "Aktienmarktsozialismus".

Auf dem Klappentext des Bandes heißt es: "Ein zukunftsweisendes Buch nicht nur für Globalisierungskritiker, sondern für alle, die Zweifel an der Marktwirtschaft haben, aber noch nicht wissen, wie eine ernstzunehmende Alternative aussehen könnte."

In seiner Beurteilung von verschiedenen Vorschlägen von Alternativen zum Kapitalismus bildet für Corneo die Frage, ob sie den gleichen Wohlstand wie der Kapitalismus hervorbringen, ein zentrales Prüfkriterium. Systeme, die zur Reduktion von Wohlstand führen, hätten keine Akzeptanz in der Bevölkerung.

Corneo fragt in seiner (modellplatonischen) Konzentration auf Strukturmodelle nicht, inwiefern schon ökologische Imperative (der Erhaltung von menschenfreundlichen Lebensbedingungen auf der Erde) zu massiven Veränderungen des in den westlichen Ländern üblichen Wohlstandsmodelles und der Lebensweise führen werden.

Für das gute Leben: Auskommen mit den Menschen, wie sie sind

Der Autor tritt zwar für das "gute Leben" ein. Er meint damit Freundschaft und anderes, das sich in Geld nicht ausdrücken lasse. Er macht damit das neben und unabhängig von der Wirtschaft Existierende stark. Eine Autonomie des Subjekts wird unterstellt. So lässt sich eine Distanz zur Wirtschaft behaupten, die zugleich nicht angetastet wird, weil sie im Kern als unabänderlich gilt. Die Subjektivität der Individuen gilt in dieser Herangehensweise faktisch als eine innere Substanz, die von den äußeren Lebensbedingungen nur am Rand berührt wird.

Unter dem Deckmantel einer Anklage gegen das Geld rechtfertigen sie den Reichtum, indem sie ihn zu einem bloßen Akzidens der menschlichen Verhältnisse erklären, deren Kern ein moralischer oder metaphysischer sein soll.

Diese Herangehensweise erinnert an die Position, die Seele sei vom Körper unbeeinflusst und das individuelle "Sein" vom "Haben". So z. B. Papst Benedikt XVI. am 6.10. 2008 auf der Weltbischofssynode in Rom: "Am Zusammenbruch großer Banken sehen wir, dass das Geld verschwindet, nichts ist. Wer nur auf Sichtbares setzt, baut auf Sand. Nur das Wort Gottes ist eine solide Wirklichkeit".1

Immer wieder betont Corneo, man müsse mit den Menschen auskommen, so wie sie heute sind. Er wendet sich zu Recht gegen eine Politik, die den Menschen von oben herab andere Motivationen aufdrückt. Das Votum gegen die "Diktatur über die Bedürfnisse"2 ist gewiss richtig, versperrt aber bei Corneo das Nachdenken über die Notwendigkeit einer Veränderung der in der Bevölkerung vorherrschenden Präferenzen.

Postmaterialistischer Lebensstil

Corneo nimmt die tatsächlich stattfindenden Veränderungen von Mentalitäten nicht ernst, die die Auffassung von dem betreffen, was als Wohlstand gilt. Es macht schon einen Unterschied zu früheren Jahrzehnten, dass das durchschnittliche Alter des privaten Neuwagenkäufers in Deutschland 2013 bei 52,2 Jahren liegt.3

Eine relevante Minderheit der Bevölkerung reduziert aus ökologischen Gründen und aus Motiven eines "postmaterialistischen" Lebensstils den Konsum. Zum Problem und zur Frage wird, ob der Anstieg des Einkommens, sofern er denn überhaupt stattfindet, zu einem Leben führt, das unsere Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen entfaltet, uns also beziehungsreicher und lebendiger macht. In der Bevölkerung finden Diskussionen über Fernflüge, über den Import von Schnittblumen aus Übersee, über spritfressende SUVs u. ä. statt.

"The good life" Bild: Thomas Quine/CC BY 2.0

Im Unterschied zu sowohl der Profitwirtschaft als auch dem "Ich-kann-doch-machen-was-ich will"-Individualismus erwächst aus dem Bewusstsein für die Nachhaltigkeitsproblematik die Aufmerksamkeit für andere Koordinaten bzw. eine andere Rechnungsweise. Beispielsweise entsteht angesichts des vom Bundesumweltamt für umweltverträglich erklärten CO2-Verbrauch von 2,5 Tonnen pro Kopf und Jahr ein neuer Blick auf Fernflüge.

Wenn bereits ein Flug von Zürich nach New York und zurück pro Passagier fast drei Tonnen CO2 verursacht, dann stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Flugreise unter anderen Gesichtspunkten als Preis/Leistungs-Kalkulationen. Diese zwei Flüge lassen sich auch ins Verhältnis setzen zur Menge von Kohlendioxid, die pro durchschnittlichem Einwohner der Bundesrepublik Deutschland jährlich durch das Heizen entsteht (1,71 Tonnen).

"Ob sich der ganze Stress noch lohnt"

In Teilen der Bevölkerung entsteht eine Aufmerksamkeit dafür, dass das Sich-Ausleihen von Gütern im Unterschied zu ihrem individuellem Erwerb den konkreten Nutzen, den der einzelne von diesen Gütern hat, nicht (oder nur minimal) schmälert, das Konsumbudget entlastet, weniger Arbeitsleistung erfordert, den "Zeitwohlstand" erhöht und menschenfreundlichen ökologischen Lebensbedingungen gut tut.

Dissidenz entwickelt sich gegenüber einer auf hohe Einkommen und Status abzielenden Arbeitshaltung infolge ihrer für die Entwicklung der Persönlichkeit ungünstigen Effekte. Etliche Bücher von früheren Mitgliedern der wirtschaftlichen "Leistungseliten" (Daniel Goedevert, Karl-Ludwig Schweisfurth u.a.), in denen sie über ihre "Umkehr" zu sinnvollerer Tätigkeit und einem entspannteren Leben berichten, sind dafür ein Beispiel.4

In der Bevölkerung sind es nicht wenige, die sich die Frage stellen, "ob sich der ganze Stress noch lohnt, ob wir den Wettbewerb nicht zu weit getrieben haben und ein weniger hektisches Leben nicht lebenswerter wäre, auch wenn wir dann vielleicht etwas weniger Konsumwohlstand hätten".5 Selbst bis in "Die Zeit"6 reicht die Unterscheidung zwischen Leben und Überleben. Camille de Toledo formuliert dort eine Kritik an der "kapitalistischen Hässlichkeit." Die Gesichter der Manager, Agenten und Pressesprecher der kapitalistischen Akkumulation seien durch die "Leidenschaft der Besessenen" geprägt.

Ihr Treiben, ihr Getue, ihre Grimassen erregen unser Mitleid.

Ihrer Geschäftigkeit sieht man die "ganze Nichtigkeit, die ganze Dummheit, die ganze Leere der heutigen Zeit" an.7 Die Wahrnehmung der kapitalistischen Akkumulation als "abstoßend hässlich" - diese "von Generation zu Generation, von der Vorschule bis zur Universität beharrlich wiederholte Botschaft könnte uns am Ende vielleicht vom makabren Programm des Akkumulierens abbringen".

Nach einigen Jahrzehnten würden sich so viele angewidert von der abscheulichen Ökonomie des Sparens, des Eigentums, der Flughäfen, der Duty-free-Shops, der Großstadtgeländewagen abwenden, dass nichts anderes übrig bliebe als eine Umgestaltung unserer Tauschprinzipien. … Handel und Ware würden vom Thron herabsteigen und in die zweite Reihe zurücktreten. Das Radebrechen der Kommunikation würde einem freundlichen, klugen Gespräch weichen.

Die innere Stimme würde einem sagen: "Sieh doch, wie die Sorge um den Markt, den Profit, das kapitalistische Überleben dich hässlich und fett macht!"8. Der demonstrative und distinktive Konsum der Reichen und Möchtegernreichen erweist sich häufig als menschlich problematisch.

Eine diesbezügliche Sensibilität bemerkt ohne Neid und Ressentiment "das Unechte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (dass andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühl der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen - eure Wohnungen, Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen- und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selbst gebend".9

Kapitalismus durch die Haustür hinauskomplimentieren, ihn aber durch die Verandatür wieder hereinlassen

Eine relevante Minderheit versteht unter Wohlstand eine von quantitativen Größen zwar nicht unabhängige, aber bestimmte gesellschaftliche Strukturen voraussetzende bzw. erfordernde Lebensqualität. Die schon ökologisch not-wendige Ressourceneffizienz und ein sich von Prestige- und Kompensationskonsum absetzender Lebensstil konvergieren.

"Das gute Teil verdrängt den vielen Schrott. ... Luxus würde dann eher zu suchen sein in der Art, nicht in der Menge der Güter, in der freien Verfügung über die eigene Lebenszeit, in den vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation und zu Beziehungen mit anderen Menschen … und auch in der Chance, Ruhe zu genießen", so der spätere grüne Hamburger Senator (für Stadtentwicklung), Willfried Maier10.

Im Rahmen dieser Entwicklung könnte "in einer bestimmten soziokulturellen Schichtlage (und zwar einer, die gerade dem kulturellen Anspruch nach eine gehobene ist) eine Kultur des 'guten Lebens’ sich neu etablieren, die sich mit Autorität gegen die Exzesse der Luxusschichten geltend machte und den Sog minderte, der von diesen auf die kleinen Konsumbürger ausgeht".11

Es besteht also kein Grund dafür, aus der Ablehnung erzieherischer Bevormundung heraus eine substanzielle gesellschaftliche Transformation ohne die Veränderung von Bedürfnissen, Präferenzen und Mentalitäten denken zu müssen.

Den Pelz waschen, ohne ihn nasszumachen, den Kapitalismus durch die Haustür hinauszukomplimentieren, ihn aber durch die Verandatür sogleich wieder ins Haus hereinzubitten: Corneos ökonomische Reformperspektive beinhaltet diese Ambivalenz.

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