Flüchtlinge: Kluft zwischen privaten Äußerungen und veröffentlichter Meinung

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Allensbach-Umfrage: 69 Prozent sagen, dass aus ihren persönlichen Gesprächen die Ablehnung der Aufnahme weiterer Flüchtlinge hervorgehe

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Es ist keine Überraschung, dass sich die Einstellung zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland ändert. Immerhin kommen Asylsuchende in einer Menge ins Land, wie man es zuvor in dieser Art nicht erfahren hat - die Vergleiche mit den Migrationen nach dem zweiten Weltkrieg oder nach der Wiedervereinigung taugen nur bedingt, allein die Beherrschung der deutschen Sprache durch die früheren "Umsiedler" stellt einen wesentlichen Unterschied dar.

So waren zentrale Ergebnisse der jüngsten Allensbach-Umfrage, die von der FAZ in Auftrag gegeben wurde und in der Zeitung präsentiert werden (hier und ausführlicher hier zu erwarten: die repräsentativ Befragten sind nun, im Oktober, zu 54 Prozent "äußerst besorgt", im September waren es noch 44%, im August 40%.

Nur 6 Prozent sehen demnach kurzfristig überwiegend Chancen in der Zuwanderung, 16 Prozent schätzen das Verhältnis von Chancen und Risiken in der kurzfristigen Perspektive als ausgewogen ein. Für die "überwältigende Mehrheit", so die FAZ, bringen die Neuankömmlinge überwiegend Risiken mit sich. Auch in der langfristigen Sicht gehen 46 Prozent davon aus, dass Risiken überwiegen. Nur 18 Prozent sehen überwiegend Chancen.

Kontrollverlust des Staates

Befürchtet werden gesellschaftliche und wirtschaftliche Konsequenzen. Zwei Drittel sind davon überzeugt, dass die vielen Flüchtlinge Deutschland "stark verändern werden". In diesem Zusammenhang wird im FAZ-Bericht erwähnt, dass sich die Mehrheit der Befragten "bewusst ist", dass "der Zustrom die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime signifikant erhöht". Dazu kommen Ängste: Beinahe zwei Drittel, 62 Prozent, fürchten, "dass terroristische Organisationen die Flüchtlingswelle nutzten, um Terroristen einzuschleusen".

Angesichts der geschilderten skeptisch bis düsteren Einschätzungen wird der Regierung wenig zugetraut, im Gegenteil:

Eine Mehrheit diagnostiziert einen Kontrollverlust des Staats und nimmt die Politik als ratlos wahr. So sind 57 Prozent der Bürger überzeugt, dass Deutschland jegliche Kontrolle darüber verloren habe, wie viele Flüchtlinge ins Land kommen. Jeder zweite unterstellt der Politik Realitätsverluste.

"Die Bilanz der persönlichen Gespräche zeichnet ein anderes Bild"

Auch das war, ebenso wie sinkende Zustimmungswerte für die CDU (- 4%) und steigende für die AfD (+3,5), zu erwarten. Aufhorchen lässt die Allensbach-Studie an einer Stelle, wo vom Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Äußerungen die Rede ist, wenn es um die Aufnahmebereitschaft geht.

Schon vor einigen Wochen, als noch die Mehrheit die Position vertrat, ihre Region könne noch mehr Flüchtlinge verkraften, gaben die meisten zu Protokoll, dass in Gesprächen mit Verwandten, Freunden und Bekannten klar die Ablehnung überwiege.

Mittlerweile ziehen 69 Prozent aus ihren persönlichen Gesprächen die Bilanz, dass die meisten die Aufnahme weiterer Flüchtlinge ablehnen; nur noch 17 Prozent erleben in ihren Gesprächen überwiegend Befürworter. Die Bilanz der persönlichen Gespräche zeichnet ein anderes Bild als viele ambivalente Aussagen über die eigene Position und ein gänzlich anderes als die Bilder des begeisterten Empfangs noch vor wenigen Wochen.

FAZ

Die Befragten gaben derart also nicht ihre eigene Meinung wieder, sondern die ihres Umfeldes, was nahelegt, dass hier möglicherweise die eigene Meinung hinter derjenigen der anderen verschanzt wird, und darüber hinaus, dass es einen privaten Meinungstenor gibt, der mit den veröffentlichten Meinungen im Widerspruch steht.

Laut Allensbach/FAZ haben 43 Prozent der "gesamten erwachsenen Bevölkerung den Eindruck, dass man in Deutschland seine Meinung zu der Flüchtlingssituation nicht frei äußern darf und sehr vorsichtig sein muss, was man sagt". Dazu kommt der Vorwurf, dass die Berichterstattung der Medien über die Flüchtlingssituation von 47 Prozent als "einseitig" eingeschätzt wird, unter den "stark Besorgten" sind 55 % dieser Auffassung.

"Das sind ganz ungewöhnliche Ergebnisse", kommentiert die FAZ:

Im Allgemeinen attestiert die Mehrheit der Bürger den Medien weit überwiegend eine angemessene Berichterstattung. Diesmal überwiegt der Eindruck selektiver Berichterstattung, bei der die Risiken und kritischen Entwicklungen und Stimmungen zu kurz kommen.

Zwar mögen die Ergebnisse im konkreten Fall "ungewöhnlich" sein, dass Phänomen selbst ist allerdings aus eng mit der Flüchtlingsfrage verbundenen und anderen Themenfeldern, wie etwa bei der Ukraine-Krise, bekannt.

Schweigen und "Streitkultur"

Dass es eine Kluft zwischen veröffentlichter und privater Meinung zu Einwanderern gibt, ist seit Jahren Thema - nicht nur in Deutschland: In Frankreich hieß es z.B. nach den Anschlägen im Januar, dass sich der "öffentliche Diskurs" endlich öffnen müsste und nun auch über die konkreten Konflikte geredet werden müsste, die es mit Einwanderern im Stadtviertel und in der Schule gebe.

In Deutschland hört man Ähnliches: Die moralische Umzäunung durch politische Korrektheit, der sich Medien verpflichtet fühlen, schränke eine öffentliche Diskussion ein, die tatsächlich alle Aspekte dessen verhandelt, was an Konflikten durch die Asylsuchenden auf Deutschland zukommt. Nur im Privaten sei dafür noch Raum.

Dadurch dass die verstörenden Aspekte der Zuwanderung - z.B. aggressive Machoeinstellungen von Teilen der Zuwanderer - in der Mainstream-Öffentlichkeit beiseite gehalten werden, bekommen die politisch Inkorrekten, die solches Unter-den Teppich-Gekehrtes ansprechen, allerdings nicht nüchtern, sondern verzerrt und zur Menschen-Hetze nutzend, erst Zulauf.

Das ist eine Kritik, die einen neuralgischen Punkt trifft. Es gibt nicht wenig Berichte und Kommentare zu den Flüchtlingen, die auf "Gut Wetter" gebürstet sind, unterstellt sei, dass sie sich durch einen pädagogischen Ansatz legitimieren oder ihm folgen. Das ist eine professionelle Deformation und in Deutschland ist für Pädagogik der Boden günstig.

Das gilt auch für bestimmte "Überzeugungsarbeit", die in Foren zu lesen ist, welche die andere Wirklichkeit, bzw. die Kehrseite der Gut-Wetter-Berichte, auf den Tisch bringen und dabei mit Einseitigkeiten glänzen. Was den Berichten und Artikeln vorgeworfen wird, Tendenz, ist in Kommentaren selbstverständlich. Und was Foren-Kommentaren vorgeworfen wird, dass sie zu krass vorgehen, findet in einer Art von veröffentlichter Meinungsartikel-Kultur, die es seit ein paar Jahren gibt, die auf prononcierte Aussagen oder Scharfmacherei setzt, ihre Inspiration oder ihr Gegenüber.

Ob das nun die vom gebildeten Bürgertum seit Jahrzehnten gewünschte und herauf beschworene "Streitkultur" ist? Eher wohl work in progress, um es optimistisch auszudrücken. Das Argument, es gebe nur einseitige, manipulative Berichterstattung taugt jedenfalls für mich nicht. Man kann sich umsehen, im Netz gibt es genügend und auch verlässliche Quellen, die Aspekte der Flüchtlingskrise ansprechen, die in "Leitmedien" zu kurz kommen.

Auffallend in der Streitkultur auf beinahe allen Kanälen ist meiner Wahrnehmung nach jedoch ein häufig auftauchender Zug zur Bestärkung eigener Realitätsauffassungen. Nach dem Motto von George W. Bush - Entweder ganz auf unserer Seite oder schon auf der des Gegners - scheint die Toleranz oder die Bereitschaft, sich mit abweichenden Auffassungen auseinanderzusetzen, nachzulassen - zugunsten eines kohärenten Weltbildes, das Bestätigungen sammelt.

Im Privaten ist die Tendenz zur gegenseitigen Bestärkung wahrscheinlich noch ausgeprägter, was die gezeigte Kluft in der Allensbach-Umfrage auch zum Teil erklären könnte. Weswegen die Medien, um den oft geäußerten Manipulationsvorwurf von ihrer Seite Wind aus den Segeln zu nehmen, Wert darauf legen sollten, bei ihren Aufbereitungen zu kritischen Situationen Widersprüche und blinde Flecken aufzuzeigen, egal ob es sich um die Ukraine-Krise, Syrien oder die Flüchtlingskrise handelt.