Fleisch, Wurst, Krebs: WHO rudert zurück

Ernährungswissenschaftler warten auf Vollpublikation

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Am Montag veröffentlichte die Krebsagentur IARC der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ergebnisse einer Arbeitsgruppe, die nach Auswertung von Studien zum Ergebnis gekommen war, dass 50 Gramm Wurstwaren am Tag das Darmkrebsrisiko um 18 Prozent steigen lassen. Unverarbeitetes "rotes Fleisch" wurde in der Meldung als "wahrscheinlich krebserregend" eingestuft. Nach zahlreichen Schlagzeilen, die diese Einstufungen erzeugten, rudert die Weltbehörde nun zurück und stellt klar, dass sie Fleisch und Wurst nicht verbieten, sondern nur darauf hinweisen wollte, dass ein verringerter Verzehr vielleicht zu einen verringerten Krebsrisiko beitragen könnte.

Thomas Bauer, der Vizepräsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) hält die relativen Risiken, mit denen die WHO hier operiert, für ein "bewährtes Mittel, die Gefahr zu übertreiben und Menschen Angst zu machen". Er weist darauf hin, dass die gemeldete Zunahme um 18 Prozent nicht heißt, "dass von je 100 Menschen, die 50 g Wurst täglich zu sich nehmen, 18 mehr an Darmkrebs erkranken". Damit man mit der Zahl etwas anfangen kann, muss man nämlich das "absolute Risiko" für eine Darmkrebserkrankung kennen, das bei etwa 5 Prozent liegt und das sich durch eine 18-prozentige Steigerung auf etwa sechs Prozent erhöhen würde. Außerdem stellt er klar, dass die Einordnung in eine Kategorie mit Asbest und Tabak keineswegs bedeutet, dass man sich durch Wurstessen einer dem Rauchen vergleichbaren Krebsgefahr aussetzt (was beispielsweise die Münchner Abendzeitung fälschlicherweise schrieb).

Bei der Einstufung berief sich die WHO auf Studien, in denen Korrelationen festgestellt worden waren. Solche Studien sind allerdings alles andere als eindeutig: Der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop weist gegenüber Telepolis darauf hin, dass bislang noch keine Vollpublikation existiert, weshalb noch niemand die WHO-Wurstwarnung "auf echter Datenbasis nachprüfen" kann. Ihm zufolge zeigen aktuelle Studien "nichts bis das Gegenteil". 2009 wurde zum Beispiel in der sehr renommierten EPIC-Oxford-Studie festgestellt, dass Vegetarier statistisch gesehen öfter an Darmkrebs erkranken.

So lange man keine Kausalitäten kennt und nicht genau weiß, wie und was zur Krebsentstehung beiträgt, sind Korrelationen von sehr begrenztem Wert. Richtet jemand tatsächlich seine Ernährung danach aus, kann es leicht sein, dass er sich unnötigerweise Vergnügen versagt oder durch einen übertriebenen Verzicht sogar Seele und Körper schädigt, indem er zum Beispiel eine Orthorexie entwickelt (vgl. Orthorexia nervosa oder der Zwang, sich "gesund" zu ernähren). Hinzu kommt, dass Studien zu ernsten Krankheitsrisiken aus ethischen Gründen nicht mit Kontrollgruppen durchgeführt werden und fast immer auf eigenen Angaben der Probanden beruhen, die entsprechend wenig verlässlich sind.

Käsekrainer ("Eitrige"). Foto: Kobako. Lizenz: CC BY-SA 2.5

Falsch interpretierte Studien führten in den letzten Jahrzehnten mehrfach dazu, dass Lebensmittel zu Unrecht verteufelt wurden: Im Februar strich das Dietary Guidelines Advisory Committee (das dem US-Landwirtschaftsministerium und dem US-Gesundheitsministerium empfiehlt, was diese Lebensmittelherstellern und Schulen vorschreiben und weiterempfehlen sollten) die bislang geltenden Cholesterin-Grenzwerte in Höhe von 300 Milligramm pro Tag (das entspricht etwa einem Ei oder 100 Gramm Butter) ersatzlos, weil es das lebenswichtige Sterol nicht mehr als Gesundheitsgefahr ansieht.

Das war vor allem deshalb bemerkenswert, weil Cholesterin jahrzehntelang als Quasi-Gift geschmäht wurde, um dessen Vermeidung Medien und Ernährungsindustrie eine Art Schuldkult aufbauten. Nun heißt es lapidar, Cholesterin zähle "nicht zu den Nährstoffen, deren übermäßiger Konsum bedenklich ist", weil wissenschaftliche Studien ergaben, dass "kein nennenswerter Zusammenhang zwischen der Cholesterinaufnahme über Lebensmittel und dem Cholesterinspiegel im Blut" besteht (vgl. Eier und Butter rehabilitiert).

Das könnte nicht die letzte Ernährungsempfehlung sein, bei der Medien und Mediziner eine Kehrtwende vollziehen müssen. So gibt es beispielsweise keine Nachweise, warum der Fünf-mal-am-Tag-Obst-und-Gemüse-Ratschlag der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) konkret vor Krebs und vor Herz-Kreislauf-Krankheiten schützen soll - dafür aber Hinweisen auf eine mögliche Begünstigung von Magen-Darm-Krankheiten. Und von den von vielen Menschen als ultimative Gesundheitsnahrung geschätzten Smoothies kam vor zwei Jahren heraus, dass sie dick machen und das Diabetes-Risiko fördern.