Lettische Ministerpräsidentin zurückgetreten

Die Regierung streitet über die Flüchtlingsfrage und Arbeitgeber kritisieren die neue Steuerpolitik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Die Regierung arbeitete ausgezeichnet, deshalb trete ich zurück!", so fasste ein lettischer Webleser ironisch Straujumas Erklärung vom 7.6.2015 zusammen. Eine genaue Begründung für diesen Schritt war ihren Worten nämlich nicht zu entnehmen. Während die Regierungschefin auf Erfolge hinweist, sprechen Beobachter von den zahlreichen Stolpersteinen, mit denen ihr Kabinett zu kämpfen hatte. Ein besonderes Hindernis bildet die Regierungsbeteiligung der Nationalen Allianz, die in der Flüchtlingsfrage zulasten der Regierungschefin punktete.

Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma erklärt ihren Rücktritt. Bild: mk.gov.lv/BY-NC-ND 2.0

Schon seit Wochen spekulierten lettische Journalisten über das Ende ihres 2. Kabinetts. Nach der parlamentarischen Verabschiedung des Staatshaushalts für 2016 könnte Straujuma zurücktreten und so kam es nun auch. Anlass bot der Wirbel um die staatseigene Air Baltic. Am 4.11.2015 hatte sie ihren Verkehrsminister Anrijs Matīss überraschend entlassen.

Er musste für die Fluggesellschaft einen privaten Investor finden. Eine Beraterfirma hatte im Auftrag seines Ministeriums Ralf-Dieter Montag-Girmes präsentiert. Der Deutsche will sich mit 52 Millionen Euro beteiligen und dafür 20 Prozent der Aktien erwerben. Air Baltic benötigt das Geld für neue Flugzeuge. Doch Geheimdienstbehörden und Matīss selbst hatten davor gewarnt, dass Montag-Girmes ein Sicherheitsrisiko darstellen könne. Er habe enge Beziehungen zu Russland und handele mit russischen Flugzeugen. Die eventuelle Anschaffung russischer Suchoi-Maschinen könne gegen EU-Sanktionen verstoßen. Der Minister warnte, dass im Vertragsentwurf dem Deutschen ein Veto-Recht beim Kauf neuer Jets eingeräumt werde.

Am Vorabend des Ministerrauswurfs hatte die Kabinettsrunde stundenlang über das Geschäft debattiert. Straujuma verkündete am nächsten Morgen, dass sie das Vertrauen in ihren Parteifreund Matīss verloren habe. Er könne dem Kabinett keinen Vorschlag unterbreiten, den er selbst kritisiere. Die Regierung hielt aber am Investor fest, doch sein Veto-Recht wurde aus dem Vertrag gestrichen.

Journalisten berichteten bereits in den Monaten zuvor über fragliche Regierungsbeschlüsse: Die vom Staat "gerettete" Citadele-Bank war verdächtig preiswert an US-Investoren verkauft worden und das verschuldete Stahlwerk Metalurgs, für das der Staat bürgte, wurde einer ukrainischen Unternehmensgruppe überlassen. Der größte Arbeitgeber der Hafenstadt Liepāja steckt weiter tief in der Krise.

Die Flüchtlingsfrage

Arnis Kaktiņš, Leiter des Instituts für Meinungsforschung SKDS, nannte in der Nachrichtensendung "Panorama" am Tag des Rücktritts den wichtigsten Grund, weshalb Straujuma den Rückhalt bei den Wählern verloren habe: die Flüchtlingsfrage.

Straujumas Partei, die liberalkonservative Vienotība, will das gute Verhältnis zu Brüssel nicht verderben und zeigte Bereitschaft, zumindest eine strikt begrenzte Zahl von Flüchtlingen, von 776 war die Rede, aufzunehmen, so wie es Jean-Claude Juncker von Lettland gefordert hatte.

Um gegen Vorurteile anzugehen, lässt Vienotība seit Wochen im Werbeblock des Lettischen Radios Spots zu Fluchtursachen ausstrahlen. Doch dies scheint erfolglos. Profiteur der lettischen Antiflüchtlingshysterie ist die mitregierende Nationale Allianz, die auch Rechtsradikale in ihren Reihen zählt. Ihre Mitglieder demonstrierten Anfang August gegen die eigene Regierung, um jegliche Aufnahme von Asylbewerbern aus dem Nahen Osten und Afrika zu verhindern.

Am 10.7.2015 hatte Straujuma den nationalkonservativen Abgeordneten Rihards Kols als Parlamentarischen Staatssekretär entlassen. Er ist der Kopf der Antiflüchtlingskampagne. Er begründete die lettische Weigerung mit dem Hinweis auf jenen Teil der russischsprachigen Minderheit, die keinen lettischen Pass haben. Diese "Nichtbürger" müsse die EU als Asylbewerber anerkennen, damit übererfülle die mittlere Baltenrepublik jegliche Quote, so argumentierte er bereits im Januar in der Saeima. In Meinungsumfragen legt die Nationale Allianz zu, Vienotība verliert.

Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma. Bild: mk.gov.lv/BY-NC-ND 2.0

Probleme mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften

Ex-Staatspräsident Andris Bērziņš nannte bildlich die vielen felsigen Untiefen unter der Wasseroberfläche als Ursache, die letztlich Straujumas Regierung in den Abgrund zog. Als schwerer Brocken erwies sich u.a. das Verhältnis zu den Lobbyverbänden.

Die Regierungspartei Vienotība, die im eigenen Verständnis eine Mitte-Rechts-Partei ist, machte sich in letzter Zeit beim Arbeitgeberverband unbeliebt. Das Kabinett reagierte in diesem Jahr auf peinliche Eurostat-Daten. Demnach ist die Einkommensverteilung ungleicher und die Armutsquote höher als in den meisten anderen EU-Ländern.

Zu Jahresbeginn hob die Regierung den Brutto-Mindestlohn von 320 auf 360 Euro und für das nächste Jahr plant sie eine Solidaritätssteuer für Besserverdiener. Dies ist der erste Schritt zur Abschaffung der neoliberalen Flattax, bei der arme und wohlhabende Lohnempfänger prozentual den gleichen Steuersatz zahlen. Eine Planungsgruppe soll die Umstellung auf die progressive Einkommenssteuer ausarbeiten.

Der lettische Arbeitgeberverband kritisierte diese Steuerpläne scharf. Doch auch bei Gewerkschaftern stieß Straujumas Ministerriege auf Ablehnung. Staatliche Angestellte in den Krankenhäusern, Polizeistellen und Schulen klagen über kümmerliche Löhne und schlechte Ausstattung. Verhandlungen mit den Ministern über deutliche Gehaltssteigerungen blieben seit dem Bankencrash 2009, infolgedessen staatliche Gehälter beinahe halbiert wurden, fruchtlos. Die Lehrergewerkschaft Lizda rief am 27.11.2015 zum Warnstreik auf. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer verweigerten an diesem Tag die Arbeit. Streiks, selbst Warnstreiks, waren bislang selten hierzulande.

Nach ihrer Erklärung wirkte Lettlands erste Frau, die Ministerpräsidentin wurde, eher entspannt. Sie war vor zwei Jahren als Nachfolgerin des jetzigen EU-Kommissars Valdis Dombrvoskis ins Amt gelangt und wurde als Übergangskandidatin eingeschätzt. Doch im letzten Herbst kandidierte sie erneut und bildete ihr zweites Kabinett. Sie schien am 7.12.2015 erleichtert zu sein, einer solchen Ministerriege, bestehend aus ihrer eigenen Partei, der Union der Grünen und Bauern und der Nationalen Allianz, nicht mehr vorstehen zu müssen.

Wie geht es weiter?

Beobachter halten Vienotība für eine Partei, in der Gruppen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen hinter den Kulissen um die Macht ringen. Parteivorsitzende Solvita Āboltiņa verlautbarte bereits im November, dass ihre Parteifreundin Straujuma amtsmüde sei. Die Regierungschefin dementierte das damals noch. Āboltiņa werden weitere Ambitionen nachgesagt, doch derzeit ist sie eher unbeliebt.

Dass der nächste Regierungschef bzw. Regierungschefin wieder aus den Reihen der momentan noch größten Regierungsfraktion stammen wird, ist ziemlich wahrscheinlich. Im Gespräch ist Innenminister Rihards Kozlovskis - in ersten Interviews äußerte er sich aber unentschieden. Zudem stellt sich die Frage, ob die Koalition in dieser Form bestehen bleibt. In der 100köpfigen Saeima hat sie mit 61 Sitzen eine stattliche Mehrheit. Doch die Nationale Allianz, die 17 Saeima-Plätze einnimmt, sorgt nicht nur in der Flüchtlingsfrage für Spannungen. Vienotība und die Union der Grünen und Bauern könnten mit einer kleineren bürgerlichen Oppositionspartei weiter regieren, hätten dann aber nur noch eine knappe Mehrheit.

Eine große Koalition aus Vienotība mit der größten Oppositionsfraktion, der Saskaņa, scheint für absehbare Zeit ausgeschlossen. Die Partei ist sozialdemokratisch orientiert und gilt als Interessenvertreterin der russischsprachigen Minderheit. Letten bezeichnen sie als "Kreml-Partei". Angesichts der Ukraine-Krise, in welcher die lettische Regierung entschieden Position für die Kiewer Regierung bezieht und vorauseilend Nato-Forderungen erfüllt, rückt der historische Kompromiss, eine Koalition aus Vienotība und Saskaņa, die derzeit noch einen dritten Partner benötigte, in weite Ferne.