Schmidt und Scholl-Latour: Eine Zusammenkunft alter Männer

Helmut Scvhmidt 2014. Bild: Kleinschmidt/CC-BY-SA-3.0

Ungebetener Doppelnachruf auf einen "weisen Staatsmann" und einen "weisen Beobachter"

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Nun, da Helmut Schmidt, nachdem er mein Leben über vierzig Jahre lang mitgestaltet hat, unter der Erde ist und die letzten Bachklänge des Staatsaktes verklungen sind, darf ich es als vielleicht erster Historiker wagen, über den Toten etwas weniger Gutes zu sagen. Ich sag’s frei heraus: Ich habe ihn, den Kanzler der Betonzeit, niemals leiden können - je weiser und heiliger er im Alter wurde, desto weniger. Warum eigentlich nicht? Das ist hier zu ergründen. Das Dogma, dem ich widersprechen will, lautet: Helmut Schmidt war weise, "der letzte Staatsmann" (so der Spiegel), der letzte Politiker, dem man vertrauen konnte. Peter Scholl-Latour ist schon ein Jahr länger tot. Die beiden waren politisch uneins, aber in der Haltung ähnlich. Das Dogma über letzteren lautet: Peter Scholl-Latour war ein Islam-Experte und ein weiser, weil völlig unabhängiger Beobachter des Weltgeschehens.

Der PR-Profi Dushan Wegner hat in seinem Buch "Talking Points" (Westend Verlag 2015) die Methoden herausgearbeitet, mit denen Leute wie Schmidt (und, ich ergänze, Scholl-Latour) im Alter ihre vorgebliche Weisheit (oder wahlweise Güte, Echtheit, Kompetenz) in Szene gesetzt haben. Ein paar Ingredienzien:

  • Spezialisiere dich auf ein bestimmtes, aber möglichst umfassendes Dauerthema und zwei oder drei Dauerdogmen, an denen du möglichst jahrzehntelang festhalten kannst. Die Hymnen werden voll sein vom Lob deiner Standhaftigkeit und deiner unabhängigen, zeitlosen Urteilsfähigkeit.
  • Beschränke dich in der Argumentation auf eine kurze Kette mit wenigen Details. Bringen deine Diskussionsgegner Details, die deiner Deutung widersprechen, lehne dich ruhig zurück, nehme einen kräftigen Zug aus deiner Pfeife oder Zigarette und sage dann jovial so etwas wie: "Junger Mann, das müssen Sie in einem größeren Zusammenhang betrachten…"
  • Reichere deine Vita möglichst schon in jungen Jahren mit einem Abenteuer an, das sich später zur Legende ausbauen lässt - einer Legende, die von deiner Fähigkeit erzählt, eine dramatische, lebensbedrohliche Situation beherzt zu meistern. Sie erlaubt dir, fast alle Kritiker als Leute abzukanzeln, die "noch nichts Existenzielles erlebt haben", also gewissermaßen stets unnütz geblieben sind. (Diesen Tipp, den sowohl Schmidt als auch Scholl beherzigt haben, berührt Dushan Wegner in seinem Kapitel "Effekt: Symbolhandlung" am Beispiel der Rolle Gerhard Schröders beim Elbehochwasser 2002.)
  • Pflege im Alter einige internationale Kontakte, auf die duch dich stets berufen kannst, um deine Weltläufigkeit zu unterstreichen. (Dushan Wegner spitzt es satirisch zu: Rufe notfalls kurz vor der nächsten Talkshow die Pekinger Auskunft an und sage dann mit sonorer, bedeutungsschwerer Stimme: "Ich habe eben noch mit Peking telefoniert. Die Stimmung ist angespannt, aber zuversichtlich.") Solche persönlichen Beziehungen und Anekdoten eignen sich dazu, sämtlichen Tatsachenklimbim (etwa Klimaschutzberichte, Rüstungsstatistiken, Opferlisten deutscher Bombenangriffe) weise vom Tisch zu wischen, soweit sie deinen Dogmen widersprechen.

Bei Schmidt waren die Dauerthemen "deutsches Wirtschaftswachstum" und "Frieden durch Hochrüstung", bei Scholl1 "die islamische Bedrohung", "der Niedergang des Westens" und die Rolle der Nationen. Die sechs wichtigsten Dogmen der beiden Weisen aus dem Abendland:

  • "Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen." (Schmidt)
  • "Unser Wohlstand hängt von Atomkraftwerken, Kohlekraftwerken, Autobahnen und einer sicheren Ölversorgung ab." (Schmidt)
  • "Stabile Verhältnisse in der Welt und der Frieden in Europa hängen von einer militärischen Überlegenheit der USA auf allen Ebenen ab." (Schmidt; an dieser Stelle war Scholl nicht d’accord.)
  • "Die Muslime streben nach der Weltherrschaft. Sie glauben: Allah ist mit den Standhaften (also den Fanatikern)." (Scholl)
  • "Das Abendland ist dem Morgenland tendenziell unterlegen, weil es dekadent, unverbindlich und entscheidungsschwach ist."2 (Scholl; Schmidt war nicht d’accord.)
  • "Europa scheitert an der Aufnahme osteuropäischer Staaten. Nur die Karolinger können Europa."3 (Scholl; Schmidt war nicht d’accord.)

Politisch hatten Schmidt und Scholl nicht viel gemeinsam. Schmidt blieb zum Beispiel, anders als Scholl, stets einer auf Kriegsvermeidung abzielenden internationalen Diplomatie verpflichtet.4 Was sie aber eint, sind zwei Haltungen: eine persönliche Arroganz und Überheblichkeit, die mich ein ums andere Mal fassungslos zurückgelassen hat; und eine schneidende Härte, eine Neigung zu brutal-technokratischen oder - bei Scholl - offen gewaltsamen "Lösungen", die, wie alle gewaltsamen Lösungen, nie etwas gelöst haben.5

Peter Scholl-Latour 2008. Bild: Bernd Andres/CC-BY-SA-3.0

Die Arroganz, mit der beide ihre besserwisserischen Belehrungen vorzutragen pflegten, hatte, für sich genommen, noch etwas liebenswert Schrulliges an sich. Eine unerträgliche Zumutung für alle, die die Welt etwas anders sahen als die beiden altfränkischen Anbeter der Macht, wurde sie erst durch die völlig distanzlose Bewunderung, die sie ausgerechnet mit ihrer jeweils größten persönlichen Schwäche in weiten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit erzielt haben. Ja, natürlich ist Neid im Spiel, wenn mir hier einfällt, wie oft man mich zurechtgewiesen hat: "Sei kein Besserwisser! Die Leute wollen keine Belehrungen." Das war offensichtlich ein Irrtum. Die Leute wollen Belehrungen - nur nicht von mir, nicht von Schwesternhelfern, von Radfahrern, von Idealisten. "Quod licet Jovi, non licet bovi", pflegte mein Großvater zu reimen. Und ich nehme mir an dieser Stelle die Arroganz heraus, den Akademikerspruch nicht ins Deutsche zu übersetzen.

Schmidt war also ein weiser Staatsmann, seine Weitsicht war, glaubt man seinen Nekrologikern, geradezu übermenschlich. Leider umfasste sie weder den Klimawandel noch das Schicksal des Regenwaldes noch das Atommüllproblem noch den Wassermangel noch einstürzende Textilfabriken in Bangladesh noch Armutswanderungen noch die Berufskrankheit Depression. Bei Scholl finden wir genau die gleichen Fehlanzeigen - vielleicht ein Generationenproblem. Mensch, Leute, was erwartet ihr bitte von Staatsmännern, die über Klimaschutz nichts sagen können oder wollen?

Wir waren es, die unnützen Visionäre, die mangels Kriegserlebnis niemals erwachsen Gewordenen: Wir waren es, die schon in den 1970er Jahren (ich also mit 14, 15) erkannt haben, welch tödlicher Wahnsinn in einem Schnellen Brüter ausgebrütet wird. Und wir haben uns mit der Erkenntnis nicht begnügt. Wir haben Leib und vereinzelt auch Leben eingesetzt, um das zu stoppen, und verdammt noch mal! Wir haben es gestoppt. Wir! Wir hätten kein Tschernobyl und kein Fukushima gebraucht, um diese Lektion zu lernen. Schmidt und Scholl - sie bekamen ihr Tschernobyl, sie bekamen ihr Fukushima, und was haben die weisen Männer daraus gelernt? Nichts. Zu ihrer Arroganz gehörte es, grundsätzlich nichts zu lernen, das wir ihnen voraus hatten. Gott schütze uns vor solchem als Standfestigkeit getarntem Altersstarrsinn! Wir haben gute Chancen, weil wir, anders als die weisen Männer, zur Hälfte Frauen sind.

Zu drei der sechs Dogmentöpfe habe ich an anderer Stelle schon passende Deckel gefunden:

  • Gewinne - Investitionen - Arbeitsplätze: Die unternehmerfreundlichen Wirtschaftsforscher geben selber zu, dass es da keinen nachweisbaren positiven kausalen Zusammenhang gibt. Die Indizien sprechen eher für einen reziproken Zusammenhang.6 Antidogma: Die Gewinne von heute sind der Crash von morgen.
  • Wohlstand durch Atomkraftwerke, Autobahnen, Flughäfen usw.: Die Wirkung dieser Prestigeprojekte wird gewaltig überschätzt, was sie an Arbeitsplätzen bringen, ist sehr überschaubar und steht in keinem Verhältnis zu den gewaltigen Kosten. Im Dienstleistungssektor dagegen entstehen sehr viel mehr Arbeitsplätze, und die Arbeit, die sie leisten, hebt unmittelbar den Wohlstand.7 Antidogma: Wir können davon leben, einander zu helfen.
  • Muslime und Weltherrschaft: Es ist einfach zu offensichtlich, wie der islamische Bösewicht in der nationalistischen und militaristischen Propaganda westlicher Herrscher die frei gewordene Rolle des kommunistischen Bösewichts einnimmt.8 Antidogma: Wer jemandem Weltherrschaftspläne unterstellt, schließt in der Regel von sich selbst auf andere.

Schmidts Loblied auf die militärische Überlegenheit der NATO kulminiert meist in der Behauptung seiner Anhänger, sein Festhalten am NATO-Raketenbeschluss habe die Sowjetunion in die Knie gezwungen. Diese Geschichtslegende ist leicht zu widerlegen. Die Aufrüstung der NATO mit Pershing-2-Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern war offiziell eine Antwort auf die vorausgegangene Modernisierung der sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen. Dieser sowjetische Aufrüstungsschritt kann also keine Folge der NATO-Raketen gewesen sein. Seine volkswirtschaftlichen Kosten fielen in den späten 1970er Jahren an, etwa zwölf Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auf die NATO-Aufrüstung in Mitteleuropa folgte kein sowjetischer Rüstungsschritt mehr. Dass Schmidt die Sowjetunion dazu gebracht habe, sich totzurüsten, ist also eine Legende.

Aber an anderer Stelle wird ein Schuh daraus: Inzwischen ist aktenkundig, dass die Welt 1983 zwei- oder dreimal am Rande eines Atomkriegs stand, weil die sowjetische Führung durch verschiedene hoch riskante amerikanische Manöver eine ganz konkrete Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Atomangriff hatte. Wir, die Friedensbewegung, haben genau diese Gefahr 1981-83 erkannt und unermüdlich thematisiert. Die amtierenden deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl haben sie nicht erkannt und auch später in ihrer grenzenlosen Weisheit bis zuletzt ignoriert oder abgeleugnet.

Was wirklich der Sowjetunion den Todesstoß versetzt haben könnte, das hat Michail Gorbatschow 2006 mehrfach ausgesprochen: Das war die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986.9 Der Kampf um die "Liquidierung" der ungeheuren Folgen der Katastrophe war der letzte Kampf des revolutions- und kriegsgestählten sowjetischen Wir-schaffen-das-Kollektivismus.

Ein anderer wichtiger Faktor dürfte der Krieg in Afghanistan gewesen sein: der erste große Krieg einer europäischen Macht gegen den Dschihadismus, die Vorläufer der Taliban und die in Gründung befindliche al-Qaida. Die NATO nannte diese Leute, darunter Osama bin Laden, damals Freiheitskämpfer und rüstete sie massiv auf, gemeinsam mit den Freiheits-Experten des saudi-arabischen Königshauses. Auch darüber hat Helmut Schmidt meines Wissens nie ein selbstkritisches Wort verloren; Peter Scholl-Latour allerdings schon. Zu seinen weitsichtigsten Taten gehörte wahrscheinlich seine unermüdliche Kritik an der Herrscherkaste in Riad.

Die Methode Scholl-Latour war eigentlich ein Witz. Stets kam er schnaufend zum Mikrofon, als wäre er gerade erst gebückt die 500 Meter von der Frontlinie zum Feldtelefon gelaufen, während ihm die Kugeln um die Ohren flogen: "Dumpf und monoton dröhnten die Kirchenglocken der christlichen Gemeinde im Gotteshaus zu Paderborn. Die westfälische Stadt ist eine religiöse Hochburg... Die unverkennbare und nicht zu unterschätzende Solidarität zwischen der okzidentalen katholischen Kirche und der regierenden christlichen Partei beweist die Verstrickung von abendländischer Religion und Herrschaft... Unüberhörbar riefen die Glocken zum Kirchgang auf. Bedrohlich, obskur, ja fast apokalyptisch wirkte das Orgelspiel im Inneren; eine bucklige Gestalt hämmerte fanatisch auf das Instrument ein..."

Originalton Scholl - fast! So karikierten die Orientalistinnen Verena Klemm und Karin Hörner 1993 seinen effekthascherischen Stil, indem sie die religiöse Hochburg Qum durch die religiöse Hochburg Paderborn ersetzten, wo damals der reaktionäre Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt regierte.10 Scholl-Latour war wohl tatsächlich unabhängig, insofern er nur seinem eigenen Ruhm verpflichtet war. Deshalb musste das Schicksal der Menschheit stets genau von dem Ort abhängen, an dem er sich gerade befand. Dass das stimmte, ist nach menschlichem Ermessen ziemlich unwahrscheinlich.

Die Methode Scholl wirft ein Grundsatzproblem auf, das Problem der medialen Aufmerksamkeit. Zurzeit ruhen alle Blicke der an Krieg und Frieden interessierten Menschheit auf den Mördern des sog. IS. Wenn Scholl noch lebte, würde er das Seine tun, um diesen schädlichen Effekt noch zu verstärken; denn wo die Kameras hinlaufen, da laufen auch die Ruhmsüchtigen hin.

Die professionelle Ruhmsucht der Scholls spielt der perversen Ruhmsucht der Mörder in die Hände. Wer wirklich am Frieden interessiert ist, muss stattdessen nach Beirut laufen und untersuchen, wie es die libanesische Gesellschaft in den 1990er Jahren geschafft hat, einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg zu beenden. Dort ist die Expertise fürs Friedenschaffen und Wiederaufbauen, die wir so bitter brauchen.