Silvesternacht in Köln: Wie mit Opfern Politik gemacht wird

Unter den Angegriffenen sind auch Männer - doch sie werden ausgeblendet. Thomas Moser fragt sich: Warum?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit Opfern wurde schon immer Politik gemacht. Mal wird ihre Zahl vergrößert, mal verkleinert - je nachdem, was bezweckt wird. Mal werden die Taten grausamer geschildert, mal werden sie geschönt. Mal werden die Opfer jünger gemacht, mal älter. Und mal wird das Geschlecht in den Vordergrund gerückt.

Hunderte Frauen wurden in der Silvesternacht in Köln Opfer von Übergriffen - das ist der Ausgangspunkt einer seit vier Wochen wallenden Diskussion, die zur Entlassung des Kölner Polizeipräsidenten, zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Düsseldorfer Landtag, zur Verschärfung der Asyl- und Flüchtlingspolitik, zur Ausweitung polizeilicher Befugnisse und nicht zuletzt zu einer unsäglichen rechtspopulistischen Mobilmachung geführt hat, in deren Rahmen die Forderung, auf Flüchtlinge zu schießen, nur eine logische Konsequenz darstellt. Der Umgang mit der Tat beherrscht die öffentliche Debatte. Die Tat selber ist nach wie vor nicht ausreichend aufgeklärt.

Zum Beispiel wird ein kleines Detail ausgeblendet: Auch Männer wurden Opfer von Übergriffen zwischen Dom und Hauptbahnhof in Köln. Sie finden bisher keinerlei Erwähnung - warum?

Auf Nachfrage teilt die Staatsanwaltschaft (StAW) Köln mit, eine "vorläufige - grobe - Auswertung der verfolgten Strafanzeigen hat ein Verhältnis der geschädigten männlichen Personen zu den geschädigten weiblichen Personen von ca. 1:5 ergeben" - Stand 20.1.2016. Ein Sechstel - das ist eine relevante Größe. Mit Stand vom 29.1.2016 gibt die Behörde die Zahl der Strafanzeigen mit "insgesamt 1016" an. Sprich: etwa 170 Männer waren betroffen. Die Frage, was diesen Männern genau widerfahren sein soll, beantwortet die StAW Köln wenig konkret. Man könne nur einen allgemeinen "Eindrucksbericht" geben. Danach seien die Männer Opfer von Diebstählen geworden. Größere körperliche Angriffe habe es aber keine gegeben. Allerdings seien Männer von den Frauen, mit denen sie unterwegs waren, "getrennt" worden. Weitere Angaben macht die Ermittlungsbehörde zur Zeit nicht.

Am 18. Februar konstituiert sich im Landtag von Nordrhein-Westfalen ein Untersuchungsausschuss (UA) zur "Silvesternacht 2015". Im Einsetzungsauftrag vom 27.1.2016 heißt es: "In der Nacht zum 01.01.2016 wurden im Bereich Kölner Dom/Hauptbahnhof eine Vielzahl von Sexual-, Raub- und Diebstahlsdelikten begangen. Opfer waren nahezu ausschließlich Frauen."

Die männlichen Opfer werden nahezu komplett geleugnet. Obwohl bei Polizei und Staatsanwaltschaft längst Zahlen über sie vorlagen. Werden die männlichen Opfer verschwiegen, weil sich Recht- & Ordnungskampagnen, wie wir sie derzeit nach den Kölner Ereignissen bundesweit erleben, leichter führen lassen, wenn ausschließlich Frauen und/oder Kinder die Opfer sind? Wird also mit den Opfern der Silvesternacht Politik gemacht?

Der Untersuchungsausschuss wurde mit den Stimmen von SPD, CDU, Grünen und FDP beschlossen. Die Piraten enthielten sich, lehnen den Ausschuss aber ab. "Wir brauchen keinen erneuten Missbrauch der Opfer für Wahlkampfzwecke", erklärte ihr Fraktionsvorsitzender.

Das eine ist die Tat - das andere der politische Umgang mit ihr. Der ist in diesem Fall doppelt manipulativ: Zunächst wurden sämtliche Opfer verschwiegen. Jetzt die, die das unpassende Geschlecht haben. Doch damit stellen sich auch für die Tat selber weiterhin Fragen: Ist überhaupt aufgeklärt, was sich am Kölner Hauptbahnhof abgespielt hat, wenn selbst dermaßen viele Männer angegriffen wurden?

Am 22. Februar begeben sich die Abgeordneten des UA zum Ortstermin nach Köln.