Verhängnisvolle Neandertaler-Gene

Diese Grafik verdeutlicht, welche Folgen das Erbgut des Neandertalers in heutigen Eurasiern haben kann. Bild: Deborah Brewington, Vanderbilt University

Gelegentlicher Sex mit Neandertalern wirkt bis heute im Menschen nach und hinterließ Spuren, die Depressionen und Sucht begünstigen

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Der Neandertaler verschwand vor Zehntausenden Jahren endgültig aus der Weltgeschichte, aber er hinterließ seine genetischen Spuren in der Menschheit, die bis heute nachwirken. Erbanlagen, die zu Depression, Hautproblemen oder Nikotin-Abhängigkeit führen können, aber auch durch eine Stärkung des Immunsystems vor Infektionen schützen.

Alle heute außerhalb Afrikas lebenden Menschen tragen zwischen rund einem Prozent und vier Prozent Neandertaler-Gene in sich. Es war eine echte wissenschaftliche Sensation, als es Paläogenetikern in den letzten Jahren gelang, das Genom des Homo neanderthalensis zu entschlüsseln und in der Folge zudem nachzuweisen, dass es nicht nur Sex mit dem anatomisch modernen Menschen gab, sondern dass gemeinsame Nachkommen gezeugt wurden - auch vor Ort in Europa (An early modern human from Romania with a recent Neanderthal ancestor).

Rekonstruktion des Aussehens eines Neandertalers im Neanderthal Museum in Mettmann, Foto: A. Naica-Loebell

Der lange unterschätzte Ur-Europäer, dessen Knochen zum ersten Mal seit der Vorgeschichte 1856 im Neandertal nahe Mettmann ans Licht kamen (vgl. Neanderthal Museum), hat es uns also tatsächlich mitgeprägt, ein klein bisschen von ihm lebt in uns weiter.

Er war kein primitiver Vormensch, sondern ein sehr guter Jäger, der aus Stein und Holz hervorragende Waffen herstellte, sich Klebstoff aus Birkenpech kochte und sich wärmende Kleidung aus bearbeitetem Leder nähte. Er kümmerte sich um seine Angehörigen und begrub seine Toten. Er bemalte seine Körper und trug Schmuck aus Knochen, Muscheln und Vogelklauen (vgl. Großes Gehirn und intelligenter als gedacht).

Kommunikation, Kultur und Kunst

Lange diskutierten die Experten darüber, ob der Neandertaler erst durch den Kontakt mit den ab circa 50.000 bis 60.000 Jahren vor unserer Zeit in sein Siedlungsgebiet einwandernden modernen Menschen eine eigene Kultur entwickelte und durch diesen Austausch symbolisches Denken kennen lernte, aber es mehren sich die Zeichen, dass er schon vorher dazu fähig war (Evidence for Neandertal Jewelry: Modified White-Tailed Eagle Claws at Krapina).

Auf jeden Fall verständigten sich Neandertaler untereinander (und wohl zudem mit anderen Menschen-Formen) mittels Sprache, ihr Sprechapparat unterschied sich anatomisch von dem des Homo sapiens, aber das bedeutet nur, dass sie Laute etwas anders artikulierten (Stimme der Neandertaler simuliert).

Lange hat die Fachwelt dem Homo neanderthalensis kaum Kultur und schon gar keine Kunst zugetraut. Ein Bild, das langsam Risse bekommt. Bislang wurde jedes Kunstwerk, das gefunden wurde, von der Wissenschaft automatisch dem anatomisch modernen Menschen zugeschrieben, aber Felsgravierungen in einer Höhle in Gibraltar brachten im vergangenen Jahr diese Annahme (erneut) ein wenig ins Wanken.

Es sind kreuzförmige Muster, die nicht zufällig entstanden sein können, es handelt sich nicht um Spuren, die durch Werkzeugebrauch, z.B. beim Zerteilen eines Tieres, hinterlassen wurden. Mit großem Aufwand schlug der Urzeitkünstler die sich kreuzenden Linien vor mehr als 39.000 Jahren gezielt in den Fels (A rock engraving made by Neanderthals in Gibraltar). Ein deutlicher Hinweis auf abstraktes Denken und symbolisches Schaffen.

Der Fundort, die Gorham-Höhle, wurde viele Generationen lang von Neandertalern bewohnt. Gibraltar war ihr letztes Rückzugsgebiet, dort verabschieden sich die letzten ihrer Art vor 24.000 bis 35.000 Jahren (vgl. Letzte Zuflucht Gibraltar).

Die DNS vom Neandertaler beeinflusst bis heute Körper und Psyche moderner Menschen. Bild: Michael Smeltzer, Vanderbilt University Neandertal-Derived

Die Begegnung mehrerer Menschenarten

Mindestens 200.000 Jahre lang war der Neandertaler der Chef in seiner Lebenswelt von Europa bis Sibirien. Ein echter Überlebenskünstler, der seiner Umgebung bestens angepasst war und mehrere Klimawechsel erfolgreich überstand. Es lebte zumindest in Asien noch ein ganz anderer Mensch, von dem außer seinem klar unterscheidbaren Genom bislang kaum etwas bekannt ist.

Der letzte gemeinsame Vorfahre von Denisova-Mensch (Ein neuer Mensch) und Neandertaler lebte vor etwa 300.000 Jahren, der gemeinsame Urahn der beiden mit dem Homo sapiens hunderttausend Jahre früher. Diese drei verschiedenen Menschen-Gruppen lebten über viele Tausend Jahre im selben Gebiet, sie trafen sich, verständigten sich, hatten Sex und zeugten Nachwuchs - sie spielen alle eine Rolle in unserem Erbgut (Frühmenschlicher Sex-Reigen).

Warum und wie die anderen sich aus der Geschichte verabschiedeten und letztlich nur wir, Homo sapiens, überlebten, darüber wird unter den Experten noch heftig mit verschiedenen Theorien diskutiert. Sicher ist nur, dass der anatomisch moderne Mensch, der vor circa 200.000 Jahren in Afrika das Licht der Welt erblickte, den Neandertaler nicht ausrottete, nachdem er seit 50.000 bis 60.000 Jahren vom Nahen Osten aus zunehmend in dessen Siedlungsgebiet vordrang.

Die Vorstellung eines vorzeitlichen Genozids, die der Fantasie einiger Forscher entsprungen war, hat sich längst als Schauermärchen erwiesen. Stattdessen zeugten der Ur-Europäer und der anatomisch moderne Mensch gemeinsam Kinder.

Immunsystem-Gene

Bereits im Januar veröffentlichten zwei Forschergruppen im American Journal of Human Genetics ihre Untersuchungen wichtiger Immungene im menschlichen Organismus. Beide Teams fokussierten so genante Toll-Like Rezeptor(TLR)-Gene, darunter speziell TLR1, TLR6 und TLR10. Diese Gene spüren auf der Zelloberfläche Bakterien, Pilzen und Parasiten auf und sorgen dafür, dass der Körper sein Immunsystem entsprechend aktiviert und den Eindringlingen den Garaus beschert.

Das Team aus Wissenschaftlern vom Institut Pasteur und dem Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) um Lluis Quintana-Murci untersuchte Erbgut-Daten des 1000 Genomes Project und von alten Homininen vor allem in Hinsicht auf wichtige Immunsystem-Gene und deren Variationen sowie evolutionären Veränderungen.

Da gab es Gene, die sich gar nicht verändert haben, andere dagegen zeigten Mutationen, die sich sehr schnell durchgesetzt hatten, wohl durch Seuchen oder andere starke Umwelteinflüsse. Das Cluster der TLR1-6-10-Gene erwies sich als das mit dem höchsten Neandertaler-Anteil sowohl bei heutigen Europäern als auch bei Asiaten (Genomic Signatures of Selective Pressures and Introgression from Archaic Hominins at Human Innate Immunity Genes).

Immungene weisen einen höheren Neandertaleranteil auf als der Rest des Genoms. Das zeigt, wie wichtig der artübergreifende Austausch von Genen für die Evolution des angeborenen Immunsystems beim Menschen gewesen sein könnte

Lluis Quintana-Murci

Die zweite Forschergruppe um Janet Kelso vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig analysierte die funktionelle Bedeutung von Genen, die der moderne Mensch von alten Menschenarten geerbt hat. Dafür screenten sie Genome heutiger Menschen aus aller Welt, um Genabschnitte zu finden, die starke Ähnlichkeit mit der DNS von Neandertalern und Denisova-Menschen aufweisen. Dabei stießen sie auf dieselben drei TLR-Gene wie ihre französischen Kollegen.

Die Wissenschaftler konnten belegen, dass diese von den anderen alten Menschen-Arten ererbten Genvarianten die Aktivität der TLR-Gene erhöhen und damit die körpereigene Abwehr gegen Krankheitserreger steigern. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings eine auch eine erhöhte Anfälligkeit des Organismus für Allergien. Janet Kelso erklärt:

So überraschend es sich anhört, ist es doch einleuchtend. Als die modernen Menschen Europa und den westlichen Teil Asiens besiedelten, hatten Neandertaler dort bereits 200.000 Jahre lang gelebt und sich an Klima, Nahrungsressourcen und Krankheitserreger ihrer Region gut angepasst. Diese vorteilhaften Anpassungen kamen dann auch dem modernen Menschen zugute, als er sich mit diesen alten Menschenarten vermischte.