"Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang"

Der belgische Historiker David Engels vergleicht den aktuellen Zustand der EU mitsamt der terroristischen Bedrohung mit dem Untergang der Römischen Republik

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Der belgische Historiker Prof. Dr. David Engels (1979) gilt als einer der interessantesten Nachwuchs-Intellektuellen Europas. In seinem 2014 erschienenen Buch "Auf dem Weg ins Imperium" vergleicht er den Untergang der Römischen Republik mit der aktuellen Krise der Europäischen Union. Einige seiner Parallelen sind erstaunlich - und beängstigend. Ich sprach mit David Engels, der in Brüssel lehrt und in der Umgebung der Stadt lebt, unmittelbar nach den Anschlägen.

Die "Hauptstadt Europas", wurde heute Ziel terroristischer Anschläge. Ende vergangenen Jahres, nach dem Terror von Paris, glich Brüssel im Rahmen der Fahndung nach den damaligen Attentätern zeitweise bereits einer Festung. Sie haben Ihren Arbeitsplatz in Brüssel, leben etwas außerhalb der Stadt. Wie nehmen Sie die aktuellen Ereignisse zur Kenntnis und hat sich das Leben in der Metropole in den vergangenen Monaten verändert?

David Engels: Nun, es ist schon eine seltsame Erfahrung, in einem Land zu leben, das sich in relativ kurzer Zeit von einer traditionell weltoffenen Gesellschaft zu einem zunehmend militarisierten Staatswesen entwickelt hat, wo selbst in Kleinstädten Militär und Polizei omnipräsent sind und die muslimische Bevölkerung zunehmend unter Generalverdacht steht, was leider in Anbetracht der bedeutsamen Rolle, die Belgien im Netzwerk des europäischen Fundamentalismus spielt, kaum erstaunt.

Trotzdem will sich ein vergrößertes Sicherheitsbedürfnis nicht einstellen, und die Ereignisse des 22. März haben ja auch die Richtigkeit dieser Annahme angezeigt: Es ist einfach unmöglich, sich wirksam vor Selbstmordattentätern zu schützen, und im Gegensatz zu kriminellen Organisationen lässt sich der terroristische Fundamentalismus ja auch nicht einfach aus der Welt schaffen, indem man die eine oder andere Organisation zerschlägt, ohne die Wurzeln des Problems anzupacken.

Schon in meinem 2012 entstandenen und 2015 dann auch im Deutschen erschienenen Buch "Auf dem Weg des Imperium" hatte ich darauf hingewiesen, dass nicht nur die belgische, sondern die gesamte europäische Gesellschaft in eine tödliche Spirale eingetreten ist, in welcher aus kurzsichtigem Wettbewerbsdenken, Casinokapitalismus und naiv-optimistischer "political correctness" notwendigerweise Frustration, Wirtschaftskrise, Fundamentalismus, Terrorismus, Populismus und schließlich unweigerlich der Sicherheitsstaat entstehen müssen. Die Ereignisse scheinen das vollauf zu bestätigen - leider.

Offenheit und Toleranz sind nicht rein europäische Werte

Im Sommer 2005, unmittelbar nach den damaligen Anschlägen von London, sagte der israelische Philosoph und Co-Autor des Buches "Okzidentalismus - Der Westen in den Augen seiner Feinde" Avishai Margalit in einem Interview: "Wenn wir uns abschotten und von offenen Gesellschaften zu ängstlichen, paranoiden Gesellschaften werden, dann hätte der Okzidentalismus gesiegt, dann gäbe es nichts mehr zu verteidigen!" Was würden Sie ergänzen, oder stimmen Sie dieser These zu?

David Engels: Diese Aussage scheint mir freilich arg eurozentrisch zu sein. Als Historiker bereitet es mir immer wieder Bauchgrimmen, die europäische Kultur als solche verkürzt mit der "offenen Gesellschaft" des späten 20. Jahrhunderts gleichgesetzt zu sehen: Zum einen hat Europa der Menschheitsgeschichte doch noch ein paar andere wunderbare Dinge neben der "offenen Gesellschaft" geschenkt, denkt man nur an die gotische Architektur, die Malerei der Renaissance, die Musik der Barockzeitalters oder die Philosophie des 19. Jahrhunderts; zum anderen finden sich auch in vielen anderen historischen Gesellschaften Phasen erstaunlicher Offenheit, denkt man an Rom in der späten Republik, Chang'an unter den Han-Kaisern oder Bagdad zur Zeit der frühen Abbasiden.

Gerade wir Europäer sollten endlich einmal zu der Einsicht kommen, dass Offenheit und Toleranz eben nicht rein europäische Werte sind, sondern auch in anderen Kulturen gelebt wurden, wenn die Konstellation günstig war. Und solche Phasen der Offenheit führen es leider auch mit sich, dass sie früher oder später wieder zu Abschottung führen, vor allem, wenn sie aggressiv nach außen gelebt und von anderen als arrogante Bedrohung eigener Identität empfunden werden.

Wer die gewachsenen Strukturen Afghanistans und des Iraks zerschlägt, um dort westliche Staats- und Wirtschaftsmodelle einzupflanzen, wer Tunesien, Libyen, Ägypten und Syrien in Bürgerkrieg versinken lässt, weil er glaubt, aus dem arabischen Frühling würden gleichsam von selbst westliche Demokratien entstehen, und wer ängstlich darum bemüht ist, den Nahost-Konflikt möglichst zu keiner langfristigen Lösung kommen zu lassen, gleichzeitig aber im sicheren Europa beständig seine eigene Offenheit rühmt, der darf sich nicht wundern, wenn es mit dieser Offenheit bald vorüber ist … Das sehen wir nicht nur in Brüssel, sondern auch in vielen belgischen Kleinstädten nahezu jeden Tag.

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