Geheimdienst-Chef: "Frankreich steht am Rande eines Bürgerkriegs"

La DGSI, Rue de Villiers à Levallois. Foto: Thomon/CC BY-SA 4.0

Der Leiter des französischen Inlandgeheimdienstes warnt vor Ultrarechten, die eine Konfrontation mit anderen Gemeinschaften suchen: "Ich fürchte hundert Mal mehr die Radikalisierung als den Terrorismus"

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Nichts ist mehr einfach in Frankreich, wenn es um die nationale Sicherheit geht. Das ist auch an der Verwirrung zu der Partei zu sehen, die sich sonst so um authentische, einfache und klare Positionen gegen "das System", also alle anderen Parteien, bemüht. Aus Sicherheitsgründen hat die Präfektur von Paris die für morgen angekündigte Demonstration gegen das Arbeitsrecht verboten. Die Reaktionen darauf fallen nicht nur auf der linken Seite unterschiedlich aus, sondern auch beim FN.

"Ein schwerer Anschlag auf die Demokratie"

Wer Schadenfreude sucht, der findet sie auch im Bericht der Zeitung Le Monde, die Marine Le Pens Kritik am Verbot - "ein Kniefall vor den Randalierern und ein schwerer Anschlag auf die Demokratie" - ihrer Aussage vom vergangenen Monat gegenüberstellt.

Noch vor vier Wochen war sie der Meinung, dass es im Ausnahmezustand keine Demonstration geben dürfe. Auch im Führungszirkel des FM widersprechen sich die Standpunkte. Nichte Marion Maréchal macht sich seit langem für ein Verbot stark. Der stellvertretende Parteivorsitzende Florian Philippot ist gegen ein Verbot.

Die Regierung hat inzwischen den Schalter umgelegt: Das Innenministerium erlaubt den Gewerkschaften die Demonstration auf einem festgelegten Parcours. Der Druck der Linken, auch innerhalb der regierenden Sozialdemokraten (PS) konnte nicht übergangen werden.

Innenminister: "außergewöhnlich hohe Bedrohungslage"

Zuvor hatte Innenminister Cazeneuve noch einmal erklärt, was alles bei den Überlegungen berücksichtigt werden müsse: "eine außergewöhnlich hohe Bedrohungslage, verbunden mit einer extremen Beanspruchung der Sicherheitskräfte seit Wochen, durch die Fußball-EM, durch den Einsatz an den Grenzen in einem besonderen Einwanderungskontext und allgemein durch den Rahmen der Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung". Diese würden durch die deutliche Präsenz von gewaltbereiten Gruppen erschwert. Mehr als 500 Polizisten seien verletzt worden.

Am gleichen Tag gab es zum Thema nationale Sicherheit eine außergewöhnliche Überschrift im rechtskonservativen Figaro. Dort wird der Chef des Inlandgeheimdienstes DGSI mit der Warnung zitiert, dass das "Risiko eines Bürgerkriegs" bestehe.

Die Aussage von Patrick Calvar, angeblich gleichermaßen von Linken wie Rechten geschätzt, tauchte schnell in anderen Medien auf: "Frankreich steht am Rande eines Bürgerkriegs", warnt l’Express.

Was Calvar, der "Super-Agent mit kühlem Kopf" (L’Obs), zur Bedrohungslage erklärt, hat ebenfalls einiges mit der Überforderung der Sicherheitskräfte zu tun.

Um es kurz zu machen, Calvar hält folgendes Szenario für wahrscheinlich: eine Reihe von weiteren Terror-Anschlägen durch Dschihadisten, nicht notwendigerweise nur von IS-Fanatikern, auf die eine aufgerüstete Ultrarechte im Land reagiert, unterschiedliche Gruppen, die sich Waffen besorgt haben, zur "Selbstverteidigung" aufrufen und entsprechend loslegen.

Ultrarechte Gruppierungen bereiten sich auf Konfrontation vor

Zwar ist die Schlagzeile "au bord d’une guerre civile" (am Rande eines Bürgerkriegs) vom heutigen Mittwoch. Die wichtigsten Ausführungen dazu datieren aber schon vom 10. Mai. Sie finden sich in den Erklärungen des DGSI-Chefs vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Attentaten am 13. November 2015. Jedem, der französisch lesen kann und sich für die Materie interessiert, sei das veröffentlichte Protokoll empfohlen, weil darin Details und Einschätzungen zu lesen sind, die eine gewisse Einsicht in die Wahrnehmung, Fahndungsmethoden und Denkweisen von Geheimdiensten geben. Auch sind interessante Widersprüche zu gängigen Annahmen zu lesen.

Dazu gehört auch die Kernaussage zum Risiko des Bürgerkriegs:

Um Ihnen gegenüber ehrlich zu sein: Ich fürchte hundert Mal mehr die Radikalisierung als den Terrorismus. Was den Terrorismus angeht, so werden wir noch ein paar Schläge einstecken müssen, aber wir werden uns dem zu stellen wissen - wir haben im Laufe unserer Geschichte mit sehr schwerwiegenden Vorfälle Bekanntschaft gemacht -; aber die sich anschleichende Radikalisierung, die die unterliegende Balance unserer Gesellschaft zum Kippen bringt, das ist in meinen Augen die sehr viel tiefgreifendere Gefahr.

In diesem Zusammenhang zählt er mehrere Phänomene auf: Darunter als erstes die Randalierer (les casseurs), die seiner Einschätzung nach international organisiert sind, die "sehr viel professioneller, als man es erwartet, operieren"; die Verbindung zwischen Banditentum und Terrorismus und den Anstieg der unterschiedlichen Extremismen, die er in ganz Europa beobachtet. Ausdrücklich verweist er darauf, dass die Sicherheitskräfte wegen der Überforderung mit anderen Schwerpunkten bislang die Gefahr nicht richtig in den Blick genommen hätten, die von ultrarechten Gruppierungen ausgehe.

Diese, so Patrick Calvar, bereite sich auf Konfrontationen vor. Sie erwarte nichts anderes als diese Konfrontation.

Ich halte mich an eine direkte, klare Sprache: also, ich bin davon überzeugt, dass sie stattfinden wird. Noch ein oder zwei Attentate und sie kommt. Es ist also unsere Aufgabe, dies zu antizipieren und alle Gruppen zu blockieren, die vorhaben, zu irgendeinem Zeitpunkt loszuschlagen, um Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften in Gang zu setzen.