Nuklearer Teilhaber Deutschland

Der Nato-Jubiläumsgipfel soll eine Überarbeitung des Bündniskonzeptes einleiten, Merkel will aber an Deutschlands Beteiligung am Nato-System der nuklearen Teilhabe festhalten

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Der Geburtstagswunsch wurde mit Nachdruck vorgetragen. Wenn am 3. April im Kurhaus Baden-Baden das Gipfeltreffen zum 60. Gründungstag der Nato eröffnet wird, so Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag, dann soll nicht nur gefeiert werden. Vielmehr müsse „die Überarbeitung des strategischen Konzepts in Auftrag gegeben werden“ ­– gerade um deutlich zu machen, dass die Nato „auch zu einer Neubestimmung des Kurses für die Zukunft bereit“ sei.

Zugleich allerdings machte die Kanzlerin unmissverständlich klar, worüber die Bundesregierung im Zuge einer Konzeptüberarbeitung nicht zu reden gedenkt: über die so genannte nukleare Teilhabe Deutschlands etwa. Gerade dieses, von offizieller Seite gern möglichst diskret behandelte Thema hatte in jüngster Zeit wieder an Aktualität gewonnen. Anfang Januar hatten die Politgranden Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr in diesem Zusammenhang einen Kurswechsel gefordert und für den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland plädiert.

Das Nato-System der "nuklearen Teilhabe" beteiligt zum einen alle nicht-nuklearen Nato-Mitglieder im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe an der Planung sowie an Kommando, Kontrolle und Konsultationen über den Einsatz von Atomwaffen. Darüber hinaus verfügen mehrere nicht-nukleare Staaten über die technischen Mittel, US-Kernwaffen, die in ihren Ländern gelagert sind, einsetzen zu können. Diese Länder – darunter Deutschland, Belgien und die Niederlande - halten Flugzeuge mit Spezialausrüstung bereit, dazu für den Nuklearwaffeneinsatz ausgebildete und regelmäßig überprüfte Piloten. Für den Fall, dass ein US-Präsident den Einsatz von Atomwaffen genehmigt, können diese in die Trägerjets der nicht-nuklearen Nato-Partner verladen und zum Abwurf durch die Mannschaft aus dem entsprechenden Land freigegeben werden. Mit anderen Worten: Laut Teilhabe-Regeln könnten deutsche Piloten im Falle des Falles Atombombeneinsätze fliegen.

International sieht eine Mehrheit der Staaten in diesen Bestimmungen eine Verletzung des Atomwaffensperrvertrages (NPT). Dessen Artikel 1 verpflichtet alle fünf offiziellen Atommächte, also auch die USA, Kernwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber "an niemanden unmittelbar noch mittelbar weiterzugeben". Artikel 2 verbietet es Nichtkernwaffenstaaten, also auch Deutschland, entsprechende Angebote anzunehmen. Dementsprechend forderten schon 1998 und 1999 über 100 NPT-Mitgliedsländer die Nato ausdrücklich auf, die nukleare Teilhabe aufzugeben. Während der NPT-Überprüfungskonferenz im Frühjahr 2005 spielte das Thema erneut eine wichtige Rolle.

Die Nato machte jedoch bislang keine Anstalten, auf das System der Teilhabe zu verzichten. Einen Grund dafür sehen Sicherheitsexperten im Streben der bisherigen US-Regierungen, die Nato-Partner auf die US-Nuklearstrategie einschließlich der umstrittenen Erstschlagsoption festzulegen. Zugleich bot das Festhalten an der Teilhabe eine weitgehende Garantie dafür, dass die rund in Europa, darunter auch in Deutschland stationierten US-Nuklearwaffen auf dem Kontinent blieben.

Im Frühsommer 2008 geriet das Thema in Deutschland zwar für kurze Zeit in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass die US-Atomsilos auf deutschem Boden selbst den minimalen Sicherheitsstandards des Pentagon nicht entsprechen. Die Bundesregierung sah damals jedoch kaum Handlungsbedarf.

Wenig später deutete Barack Obama, damals noch US-Präsidentschaftskandidat, erstmals einen Kurswechsel in der US-Atomwaffenpolitik an. Dies sei "der Moment, an dem wir das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen erneuern müssen", erklärte er in seiner Rede vor der Siegessäule in Berlin, und bekam dafür besonders viel Beifall. Die Bush-Regierung hatte nach ihrem Amtsantritt 2001 den Stellenwert der amerikanischen Kernwaffen in ihrer Militärstrategie immer weiter erhöht. Zugleich wurden milliardenschwere Programme zur Weiterentwicklung des Atomarsenals angeschoben – ein Kurs, gegen den sich schließlich auch in den USA Widerstand formierte.

Für viel Aufsehen sorgte 2007 vor allem ein Artikel mit der Schlagzeile "Für eine Welt ohne Atomwaffen", unterzeichnet von vier sehr einflussreichen Männern: den Ex-Außenministern George Shultz und Henry Kissinger, dem früheren Pentagon-Chef William Perry und Sam Nunn, lange Jahre auf wichtigen Senatsposten. Ihre Kernthese: Die Zeit einer militärisch sinnvollen gegenseitigen nuklearen Abschreckung ist vorbei. Denn durch die immer breitere Verfügbarkeit von Atomwaffen wird es zunehmend wirkungsloser und riskanter, weiterhin auf diese Waffen zu setzen. In der Folge fanden Kissinger und Co. zahlreiche hochkarätige Unterstützer, Demokraten wie Republikaner. Darunter sind etliche weitere Außenminister, Pentagonchefs und Sicherheitsberater aus früheren Jahren, selbst Bushs erster Außenamtschef Colin Powell ist dabei.

Wie weit die Bereitschaft der USA zu einem Kurswechsel tatsächlich geht, ist noch offen. In der jüngsten Erklärung der Bundeskanzlerin heißt es jedoch bereits: Um den gewachsenen Risiken der Weiterverbreitung von Atomwaffen zu begegnen, habe die Bundesregierung „ die nukleare Teilhabe in der Allianz im Weißbuch verankert, weil wir wissen, dass sie uns Einfluss im Bündnis, auch in diesem höchstsensiblen Bereich, sichert“. Kritiker halten dem entgegen, dass die Mitarbeit eines Nato-Mitgliedes in der nuklearen Planungsgruppe der Allianz nicht an dessen Beteiligung am System der nuklearen Teilhabe geknüpft ist. Auch sei eine Aufgabe der nuklearen Teilhabe noch lange nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe der nuklearen Abschreckung, da die Atomarsenale der westlichen Atommächte ja fortbestünden.

Mit Blick auf die im Jahr 2010 anstehende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, bei der es durchaus um das Fortbestehen diese Vertragswerkes gehen könnte, dürfte die Frage der nuklearen Teilhabe Deutschlands künftig an Brisanz gewinnen.