User-generated Nonsense

Literaturbesprechungen von Laien im Web 2.0

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Es gibt inzwischen tausende, hunderttausende Rezensenten im Web. Sie äußern sich auf Amazon und bei anderen Online-Buchhändlern und in ihren eigenen "Literaturblogs". Nun ist nicht jeder, der lesen kann, ein echter Rezensent (und nicht jeder, der schreiben kann, ein Schriftsteller). Leider verleiht das Web 2.0 den ganz unterschiedlichen Stimmen eine ähnliche Bedeutung. Wenn Marcel Reich-Ranicki oder Joachim Kaiser und ein literarischer Laie ein Buch besprechen und dessen Titel oder den Namen des Autors erwähnen, werden die Beiträge von der Suchmaschine unter- und damit nebeneinander gelistet. Bei unbekannten Autoren fallen einzelne Aussagen von Laien durchaus ins Gewicht. Und bei bekannten macht es die Masse.

Es haben sich ein paar Literaturblogs herausgebildet, bei denen Anführungszeichen unnötig sind, hervorragend umgesetzte, bis ins Detail durchdachte Angebote von Experten oder Laien, die keine Laien mehr sind. Demgegenüber steht eine enorme Anzahl von Blogs, die anstelle der Bücher das Seelenleben der Blogger behandeln. Es spielt weniger eine Rolle, wie das Buch ist, wie es sprachlich, inhaltlich, historisch und kulturell einzuordnen wäre, sondern mehr, wie es auf den Rezensenten wirkt, wie er sich fühlt beim Lesen und davor und danach. Das Gefühl drängt sich in den Vordergrund und wird häufig in einem euphorischen oder vernichtenden Urteil ausgedrückt; der interessierte Leser läuft ins Leere, da er bei einem Urteil eine Begründung erwartet und diese nicht erhält. Er kann sich nicht informieren und sich nicht aufklären lassen, er kann keine eigene Meinung und kein Auge für die Ästhetik der Texte entwickeln.

Trotzdem hinterlassen die Liebesschwüre und Hasstiraden deutliche Spuren: Was im Web liegenbleibt, tritt sich fest. Wenn sich solche Blogs gegen ihre Tendenz an Analysen versuchen, scheitern sie meistens, denn es fehlt ihnen die Fachsprache, die wie die natürliche Sprache über Jahre erlernt werden muss. Und die natürliche Sprache ist selten das, was sie in diesem Kontext sein könnte und sollte.

Einige der zweifelhaften Blogs werden geschäftsmäßig betrieben, veröffentlichen also regelmäßig Beiträge und stellen ein dauerhaftes Angebot dar. "Geschäftsmäßig" ist nicht mit "kommerziell" zu verwechseln; private Angebote können sehr wohl geschäftsmäßig sein, und hunderttausende Blogs im deutschsprachigen Raum haben geschäftsmäßigen Charakter. Etlichen fehlt aber nicht nur ein Impressum, sondern ein Name überhaupt; es ergibt sich ein Ungleichgewicht der Namen, ein unseliges Verhältnis zwischen dem anonymen Rezensenten und dem genannten Schriftsteller. Solche Ungleichgewichte werden wesentliche Errungenschaften des Rechtsstaats auf die Dauer zerstören: Die scheinbare, grenzenlose Meinungsfreiheit wird die echte Meinungsfreiheit aushöhlen und zusammenstürzen lassen. Die Aufsichtsbehörden der Länder hätten die Pflicht, auf Meldungen zu reagieren und die Betreiber der Plattformen und Blogs auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen; die Betreiber der Plattformen hätten die Pflicht, ihre Angebote zu sichten und die Betreiber der Blogs auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen. Es existieren in diesem Bereich genügend Gesetze, Regelungen und Pflichten, für die sich allerdings nicht wirklich jemand interessiert. Die Verwaltungen des Rechtsstaats verwalten den Rechtsstaat; dessen Grundlagen und Ideale sind ihnen egal. Doch selbst mit dem Verwalten wollen oder können sie nicht nachkommen. Der Rezensentenmob, zu dem die Laien im Web immer wieder werden, durchbricht die Schranken.

Die alten Massenmedien machen bei dem Spiel mit

Die Partizipationskonzepte auf Amazon sind in hohem Maße anfällig für Manipulationen. Ich habe neulich versucht, ein Buch über das Web 2.0 zu lesen, das von Professoren einer angesehenen Universität stammt. Formal ist jeder zweite Satz verunglückt, inhaltlich jeder zwanzigste. Trotzdem überschlagen sich die Rezensenten auf der Plattform und preisen das Pamphlet als neues Standardwerk. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurden wissenschaftliche Mitarbeiter und Personen aus dem "Netzwerk" verpflichtet; wer seine Promotion mit Erfolg abschließen oder gewisse Privilegien genießen will, muss sich eben ein wenig prostituieren.

Natürlich sind nicht alle (Kunden-)Rezensionen auf Amazon "eingekauft"; fast alle stammen aber von fachlich oder literarisch ungebildeten (bzw. nicht ausgebildeten) Lesern, und Literatur- und Sprachwissenschaftler oder andere Experten sind selten dabei. Nebenbei zeigt sich, dass Experten Laien sein können; ein Titel schützt vor Torheit nicht ... Wer die Besprechungen der "Feuchtgebiete" gelesen hat, wundert sich, dass Charlotte Roche noch lebt; ein Mob durfte auf Amazon eine Wortkeule schwingen, unter der sie durchaus hätte zusammenbrechen können. Ihr scheinbar unseriöses Buch hat aber das Recht auf eine seriöse Beurteilung, obwohl sie in Interviews den Fehler begangen hat, ihre Figur und sich selbst in eins zu setzen.

An den Beiträgen und Klicks der User verdienen die Betreiber der Plattformen. Das ist der Grund, warum sie kein gesteigertes Interesse daran haben, Ordnung und Qualität herzustellen. Es sind also nicht allein die Benutzer Schuld, sondern auch die Betreiber, die ihnen eine Plattform bieten. Davon sind die früheren Massenmedien nicht ausgenommen. Sie mischen bei dem Spiel mit, um wie ein Online-Kasino abzukassieren, und was sie in der gedruckten Form nach wie vor vorschreiben, den guten alten Leserbrief, der mit dem echten Namen unterzeichnet ist, hebeln sie bei ihrem Webauftritt aus. Zuweilen braucht es eine Anmeldung, um sich äußern zu dürfen - aber was für eine! Jeder offensichtliche Nickname ist erlaubt, jedes Fake darf sich einloggen und um die Ehre von anderen zocken.

Eine weitere Entwicklung ist für die beschriebene Kulturkrise verantwortlich. Wer die Rezensionen in den Massenmedien betrachtet, stellt schnell fest, dass fast ausschließlich Bücher der "mächtigen" bzw. "etablierten" Verlage besprochen werden. Diese umsorgen die Redaktionen auf liebevolle Weise und lassen ihnen Rezensionsexemplare und Geschenke zukommen, womöglich mitsamt dem Versprechen, bei Gelegenheit an die Anzeigenabteilungen zu denken. Dies können sich "unbedeutende" bzw. "unbeachtete" Verlage nicht leisten, und genauso wenig Autoren, die auf ihre Werke hinweisen wollen.

Die Verstrickungen und Abhängigkeiten betreffen keineswegs nur die großen Zeitungen und Zeitschriften; auch kleine Radiosender profitieren von "Rahmenverträgen" mit Verlagen und Buchhandlungen. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein Radiosender mit einem Autor ein Interview durchgeführt hat. Der Autor stellte auf Wunsch des Senders, für eine Verlosung, wie man ihm sagte, mehrere Exemplare seines neuesten Romans zur Verfügung. Als das Interview nicht gesendet wurde und der Autor sich nach dem Grund erkundigte, hieß es von Seiten der Verantwortlichen, es sei doch nicht so einfach, den Beitrag zu bringen, da man vertragliche Verpflichtungen habe. Im Klartext bestimmt ein Verlag oder eine Buchhandlung, welche Bücher der Sender vorstellt. Der Autor hat übrigens seine Bücher, die er seinem Verlag zum Autorentarif abgekauft hat, nie wieder gesehen ...

In der Tat dürfen wir den kleinen und großen Massenmedien nicht vertrauen, wenn es um die Vorstellung und Bewertung von Literatur geht. Wir dürfen ihnen auch nicht vertrauen, wenn sie einen Autor als den besten oder ein Buch als das wichtigste rühmen; denn sie kennen 95 Prozent der Literatur nicht, und nicht nur wegen der fehlenden Lebenszeit, sondern weil sie sie nicht kennen wollen oder sollen. Im Grunde ist jedes literarische Urteil der Medien unter solchen Bedingungen eine Anmaßung.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass bei den Lesern eine Wut entstanden ist - und ein Wille, ihr Lesen in den öffentlichen Raum zu verlagern. Das Web 2.0 schien die historische Chance zu bieten, unbekannter Literatur und unbekannten Autoren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig und reichen von der Zersplitterung der Öffentlichkeit in zahllose Teilöffentlichkeiten über die Kostspieligkeit unabhängiger Rezensionstätigkeit bis hin zu dem angedeuteten Umstand, dass das Web 2.0 ein Nachmachweb ist, ein neues Medium, das sich in bestimmten Prinzipien an den alten Medien orientiert, etwa mit der Neigung, etablierten Verlagen und bekannten Autoren den Vorzug zu geben, und in bestimmten eben nicht. Es tritt auf das Phänomen der Laien, die sich den Strukturen anpassen, in denen sie keinen Platz gefunden haben, oder vielmehr, die sich anpassen, soweit sie können: Sie sprechen von der Literatur, von der auch andere sprechen, nennen ihren unvollständigen Beitrag Rezension, und was auf den ersten Blick an Kaiser oder wenigstens Reich-Ranicki denken lässt, offenbart auf den zweiten den ganzen Wahnsinn einer Generation.

Stärkung der Aufklärung und Netiquette 2.0?

Was kann man tun, um den User-generated Content - um an dieser Stelle allgemeiner zu werden - nicht der völligen Lächerlichkeit preiszugeben und ihn in der Masse zum User-generated Nonsense geraten zu lassen? Wie könnte man hehre Ansätze des Web 2.0 retten und fruchtbar machen?

Von Politik und Verwaltungen, Hochschulen und Wissenschaften sowie Plattformen und Medien darf man sich momentan nicht zu viel versprechen; noch durchblicken sie nicht das ganze Ausmaß der Misere oder profitieren sie zu sehr von dem scheinbar einträglichen Geschäft. Dabei wären gerade Politik und Hochschulen in der Pflicht; sie müssten Ressourcen und Methoden bereitstellen, um Informations- und Medienkompetenz und Technologie- und Medienkritik zu vermitteln. Das ist die erste Antwort auf die Frage: Gegen den Verlust der Aufklärung hilft nur die Stärkung der Aufklärung selbst.

Die Verschmutzer des Internets müssen wissen, was sie tun; und wenn sie wissen, was sie tun, müssen sie die Konsequenzen tragen. Die Benutzer müssen wissen, was sie vor sich haben; und wenn sie es wissen, müssen sie nachdenken und handeln. Beispielsweise können sie - eine mögliche zweite Antwort - versuchen, die anonymen Blogger und Blogs selbst zum Thema zu machen. In der Masse sind diese stark, in der Anonymität, aber wehe, man bespricht ihre Angebote und Beiträge.

Genau hier wird indes wieder das Problem des Ungleichgewichts der Namen sichtbar: Man kann zwar auf ein zweifelhaftes Blog verlinken, man kann seinen Namen nennen, wenn es einen hat; doch der nicht nennbare, weil namenlose Blogger wird sich ins Fäustchen lachen. Wenn er den Mut hat, seinen Namen zu nennen, muss er auch den Mut haben, die Reaktionen auf seine Bemühungen zu ertragen. Wenn er diesen nicht hat, wird er irgendwann aufgeben. Das wäre sie endlich, die Selbstreinigungskraft des Internets. Womöglich ist diese zweite Antwort auf die Frage auch falsch; wer zweifelhafte Blogs in den Mittelpunkt rückt, rückt sie eben dorthin, wohin sie nicht gehören.

Eine dritte Antwort könnte darin bestehen, eine Netiquette 2.0 zu entwickeln und zu verbreiten, aus der Kooperation von Selbstmach- und Mitmachweb heraus. Über den Nutzen von Netiquetten kann man geteilter Meinung sein; jedenfalls scheint es so zu sein, dass man in der Anfangszeit des WWW solche Regelwerke kannte und diskutierte und teilweise einhielt und wir in der (aus unerfindlichen Gründen so genannten) "Informations- und Wissensgesellschaft" in die digitale Steinzeit zurückgefallen sind.

Das Web 2.0 zeigt sein hässliches Gesicht

Im Zeitalter der Schönheitsoperationen müssen wir damit nicht zwangsläufig leben. Wir sollten freilich aufpassen, dass keine Schlauchbootlippen entstehen, die die Benutzer nicht mehr küssen möchten, oder Synchronschwimmerinnennasen, die nicht mehr riechen können. Im Web 2.0 spiegelt sich unser eigenes Antlitz, und eigentlich kann niemand wünschen, dass dieses einer Fratze gleicht. Wenn uns unsere Literatur etwas wert ist, sollten wir Talente mit ihr flirten und den Mob nicht über sie herfallen lassen.

In einer "Literaturgruppe" des studiVZ habe ich einmal Sätze über Vladimir Nabokov gelesen, die zutiefst beunruhigend waren. Verwechselt wurden Figur bzw. Erzähler und Autor, und das Buch wurde nicht als Fiktion, sondern als Dokumentation gelesen, mit fatalen Konsequenzen für den berühmten Schriftsteller. Die Sätze wurden in einer "Diskussion" von Personen vorgebracht, die sich anschließend wahrscheinlich heftig gegruschelt haben. Man hat sich lieb im Web 2.0, wenn man nicht gerade jemanden steinigt.

Obwohl das studiVZ inzwischen von Hausmeistern und Autoverkäufern heimgesucht wird, die sich in meinVZ zu alt fühlen, sind nach wie vor genügend Studierende vorhanden, die ein gewisses Niveau aufrechterhalten könnten. Könnten, denn auch das ist interessant am Web 2.0: Auf den Schattenseiten der verschiedenen Social und Asocial Networks sind bezüglich Kommunikation und Kompetenz keine erheblichen Unterschiede festzustellen. Es gibt eben nur einen Mob - und nicht mehrere.

Der Verfasser ist Germanist und Philosoph und arbeitet als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Nordwestschweiz.